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Das Mädchen
VON PETRA M1CHAELY
v ch weiß noch genau, wie es war, als sie zu uns
kam. Sie zog sich eine Schürze über den weit ab=
stehenden Rock und wippte zu mir in die Küche.
„Lesen Sie Heftchen?" fragte sie.
Eigentlich hatte ich mit ihr zuerst über Haus=
arbeiten reden wollen. Aber das interessierte sie gar
nicht. Sie fand einen Kompromiß zwischen dem,
was sie wollte, und dem, was sie sollte, indem sie
ihre Heftchen über alle Zimmer verstreute, damit
sie jederzeit zur Hand waren. Zwischen dem
Staubwischen orientierte sie sich über James
Deans letzte Tage. Beim Geschirrtrocknen ließ sie
sich über die verschiedenen Ehen Elizabeth Taylors
aufklären. Und während die Kartoffeln langsam
einen dunkelbraunen Rand ansetzten, fand sie Zeit,
Einzelheiten von Brigitte Bardot in Lebensgröße
auszuschneiden, um sie später neben ihr Bett an
die Tapete kleben zu können.
Man gibt nicht gern zu, der Jugend von heute ver=
ständnislos gegenüberzustehen. Ich nahm mir da=
her vor, unvoreingenommen ihren Problemen
näherzurücken. Bereitwillig machte sie mich mit
ihnen bekannt. Die Tür zu meinem Zimmer flog
auf. Schnaubend vor Überdruß warf sie sich neben
mir in den Sessel: sie kann ohne Musik nicht
arbeiten. Weil ich nicht mit Musik arbeiten kann,
einigten wir uns auf gedämpfte Musik. Seither
verlegte sie ihre Beschäftigung in unmittelbare
Nähe des Radios.
Die Revolution in meinem Haushalt war ein biß=
chen viel für mich. Zu meiner Erholung schickte ich
sie daher kaufen. Abends, lange nach Geschäfte
Schluß, kam sie wieder. Sie hatte auch für sich
eingekauft, einem dringenden Bedürfnis zufolge
und um in keiner Weise hinter den Damen der
Stadt zurückzustehen, diverse Hilfsmittel zur Ab=
rundung ihrer Figur.
Ich hätte jetzt böse sein müssen. Aber das ging
nicht, denn sie weinte und wollte getröstet sein.
Sie weinte nicht etwa aus Schuldgefühl heraus,
weil sie so spät kam oder weil sie mein Geld ver=
braucht hatte. Sie weinte aus Zorn über die hohen
Preise: von dem Rest des Geldes hatte sie nur ein
Filmbild kaufen können, eine Brigitte Bardot, die
nichts als einen Fächer trug und fortan unter
einem Reißnagel Wandschmuck wurde.