Full text: 1961 (0089)

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Das Mädchen 
VON PETRA M1CHAELY 
v ch weiß noch genau, wie es war, als sie zu uns 
kam. Sie zog sich eine Schürze über den weit ab= 
stehenden Rock und wippte zu mir in die Küche. 
„Lesen Sie Heftchen?" fragte sie. 
Eigentlich hatte ich mit ihr zuerst über Haus= 
arbeiten reden wollen. Aber das interessierte sie gar 
nicht. Sie fand einen Kompromiß zwischen dem, 
was sie wollte, und dem, was sie sollte, indem sie 
ihre Heftchen über alle Zimmer verstreute, damit 
sie jederzeit zur Hand waren. Zwischen dem 
Staubwischen orientierte sie sich über James 
Deans letzte Tage. Beim Geschirrtrocknen ließ sie 
sich über die verschiedenen Ehen Elizabeth Taylors 
aufklären. Und während die Kartoffeln langsam 
einen dunkelbraunen Rand ansetzten, fand sie Zeit, 
Einzelheiten von Brigitte Bardot in Lebensgröße 
auszuschneiden, um sie später neben ihr Bett an 
die Tapete kleben zu können. 
Man gibt nicht gern zu, der Jugend von heute ver= 
ständnislos gegenüberzustehen. Ich nahm mir da= 
her vor, unvoreingenommen ihren Problemen 
näherzurücken. Bereitwillig machte sie mich mit 
ihnen bekannt. Die Tür zu meinem Zimmer flog 
auf. Schnaubend vor Überdruß warf sie sich neben 
mir in den Sessel: sie kann ohne Musik nicht 
arbeiten. Weil ich nicht mit Musik arbeiten kann, 
einigten wir uns auf gedämpfte Musik. Seither 
verlegte sie ihre Beschäftigung in unmittelbare 
Nähe des Radios. 
Die Revolution in meinem Haushalt war ein biß= 
chen viel für mich. Zu meiner Erholung schickte ich 
sie daher kaufen. Abends, lange nach Geschäfte 
Schluß, kam sie wieder. Sie hatte auch für sich 
eingekauft, einem dringenden Bedürfnis zufolge 
und um in keiner Weise hinter den Damen der 
Stadt zurückzustehen, diverse Hilfsmittel zur Ab= 
rundung ihrer Figur. 
Ich hätte jetzt böse sein müssen. Aber das ging 
nicht, denn sie weinte und wollte getröstet sein. 
Sie weinte nicht etwa aus Schuldgefühl heraus, 
weil sie so spät kam oder weil sie mein Geld ver= 
braucht hatte. Sie weinte aus Zorn über die hohen 
Preise: von dem Rest des Geldes hatte sie nur ein 
Filmbild kaufen können, eine Brigitte Bardot, die 
nichts als einen Fächer trug und fortan unter 
einem Reißnagel Wandschmuck wurde.
	        
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