Full text: 1961 (0089)

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Wohnung suchen. Am Telefon müssen sie flüstern 
— und schwindeln müssen sie auch. 
Heino läuft durch die lange Hansastraße über das 
sonnenheiße Pflaster. Am Ende der Straße liegt 
der Sportplatz, danach hört die Stadt gleich auf, 
und über einen Feldweg kommt man zu dem Wäld= 
chen mit dem alten Steinbruch, bei dem er letzten 
Sommer mit dem Vati einmal war. Viele Blumen 
haben sie da gesehen und Vögel und kleine Falter. 
Bläulinge hat Vati sie genannt. Die Namen der 
Blumen und der Vögel hat er auch gewußt. Alles 
hat er gewußt. Und nun ist er fortgegangen, ver= 
reist sagt Mutti; aber das ist Schwindel. 
Heinos Füße brennen, die Schulmappe ist schwer, 
doch nun ist er schon auf dem Feldweg. Er will 
noch einmal in das Wäldchen, wo er damals mit 
Vater war. Unter den Bäumen geht es sich ein 
bißchen leichter. Da blühen die Blumen wie im 
vergangenen Jahr, tiefer drinnen singen die Vögel, 
und irgendwo müssen auch wieder die Bläulinge 
sein. „Vorsicht!" hat Vati damals gesagt, „dort geht 
es zum alten Steinbruch, das ist ein richtiger Ab= 
grund!" Aber das war bestimmt auf der anderen 
Seite. 
Heinos Rücken schmerzt, er ist müde, doch er 
möchte so gern einmal die Bläulinge spielen sehen, 
die er mit Vater gesehen hat. Dort hinter dem 
Haselbusch vielleicht oder bei dem Felsen. Da 
schwebt so etwas Blaues, Zartes. Heino tut einen 
Schritt auf den Felsen zu und noch einen, dann 
tritt er plötzlich ins Leere. — „Vorsicht!" hat Vati 
gesagt. „Vatiii...!" 
Er hört noch seinen eigenen Schrei und danach 
nichts mehr. Lange nichts mehr, Aber als er zu sich 
kommt, setzen die Gedanken genau da wieder ein, 
wo sie abgerissen sind, und er nimmt auch seinen 
Schrei wieder auf: „Vatiii!" 
„Ja, mein Junge, hier bin ich ja, hier bei dir." 
Schwindel, denkt Heino, er ist ja fort und kommt 
nicht wieder. Doch wie er angestrengt die Lider 
hebt, erkennt er wahrhaftig wie durch einen dich= 
ten Nebel zwei Gesichter, Vati und Mutti. Und er 
hört zwei Stimmen, wie von sehr weit her: „Wir 
sind bei dir, Heino." 
„Und ihr bleibt bei mir — immer?" 
„Immer, Heino." 
„Kein Schwindel?" 
„Kein Schwindel, Heino." Vatis Stimme ist jetzt 
ein bißchen heiser, und Mutti sagt überhaupt 
nichts, sie schluckt nur so komisch. 
„Weinst du, Mutti?" Heino reißt mühsam die 
Augen auf, aber da ist immer noch der Nebel, und 
das Sprechen geht so furchtbar schwer. 
„Ich wollte nicht weglaufen, bestimmt nicht. Bloß 
mal in das Wäldchen wie voriges Jahr. Weißt du 
noch, Vati? Und auf einmal war da der Abgrund. 
Vielleicht hab ich nicht richtig aufgepaßt." 
„Ja, mein Junge, ich weiß. Man paßt nicht richtig 
auf, und dann ist da der Abgrund. Aber von jetzt 
ab, mein Junge ..." 
Das ist wieder Vaters Stimme, eine warme tröst= 
liehe Stimme. Mutti sagt immer noch nichts. Sie 
streichelt bloß seine Hand, und dabei weint sie 
ganz leise. Und sogar dieses Weinen ist jetzt tröst= 
lieh und gut. 
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Der Mond beglänzt den Palmengarten. 
Die Adria gluckst ganz diskret. 
Das ist die Zeit der Speisekarten — 
wenn man nur wüßte, was drauf steht! 
Man braucht dem Kellner nur zu winken, 
er hat sie immer bei der Hand. 
Zunächst bestellt man was zum Trinken — 
das Wörtchen „Wein" ist weltbekannt. 
Dann greift man nach dem Speisekärtchen 
und tippt ganz blind auf Zeile drei — 
C (TV zA ccötc\ (\ct 
der Kellner mit dem Menjoubärtchen 
bringt Thunfisch mit Kartoffelbrei. 
Man schlingt das ölig=braune Stippchen, 
am liebsten riefe man ganz laut 
nach einem echten deutschen Rippchen 
mit Bauernbrot und Sauerkraut! 
Man soll nicht in die Fremde reisen, 
bevor man ihre Sprache spricht, 
sonst muß man dauernd Thunfisch speisen, 
und alle Tage schmeckt das nicht! 
Hans=Erich Richter
	        
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