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Wohnung suchen. Am Telefon müssen sie flüstern
— und schwindeln müssen sie auch.
Heino läuft durch die lange Hansastraße über das
sonnenheiße Pflaster. Am Ende der Straße liegt
der Sportplatz, danach hört die Stadt gleich auf,
und über einen Feldweg kommt man zu dem Wäld=
chen mit dem alten Steinbruch, bei dem er letzten
Sommer mit dem Vati einmal war. Viele Blumen
haben sie da gesehen und Vögel und kleine Falter.
Bläulinge hat Vati sie genannt. Die Namen der
Blumen und der Vögel hat er auch gewußt. Alles
hat er gewußt. Und nun ist er fortgegangen, ver=
reist sagt Mutti; aber das ist Schwindel.
Heinos Füße brennen, die Schulmappe ist schwer,
doch nun ist er schon auf dem Feldweg. Er will
noch einmal in das Wäldchen, wo er damals mit
Vater war. Unter den Bäumen geht es sich ein
bißchen leichter. Da blühen die Blumen wie im
vergangenen Jahr, tiefer drinnen singen die Vögel,
und irgendwo müssen auch wieder die Bläulinge
sein. „Vorsicht!" hat Vati damals gesagt, „dort geht
es zum alten Steinbruch, das ist ein richtiger Ab=
grund!" Aber das war bestimmt auf der anderen
Seite.
Heinos Rücken schmerzt, er ist müde, doch er
möchte so gern einmal die Bläulinge spielen sehen,
die er mit Vater gesehen hat. Dort hinter dem
Haselbusch vielleicht oder bei dem Felsen. Da
schwebt so etwas Blaues, Zartes. Heino tut einen
Schritt auf den Felsen zu und noch einen, dann
tritt er plötzlich ins Leere. — „Vorsicht!" hat Vati
gesagt. „Vatiii...!"
Er hört noch seinen eigenen Schrei und danach
nichts mehr. Lange nichts mehr, Aber als er zu sich
kommt, setzen die Gedanken genau da wieder ein,
wo sie abgerissen sind, und er nimmt auch seinen
Schrei wieder auf: „Vatiii!"
„Ja, mein Junge, hier bin ich ja, hier bei dir."
Schwindel, denkt Heino, er ist ja fort und kommt
nicht wieder. Doch wie er angestrengt die Lider
hebt, erkennt er wahrhaftig wie durch einen dich=
ten Nebel zwei Gesichter, Vati und Mutti. Und er
hört zwei Stimmen, wie von sehr weit her: „Wir
sind bei dir, Heino."
„Und ihr bleibt bei mir — immer?"
„Immer, Heino."
„Kein Schwindel?"
„Kein Schwindel, Heino." Vatis Stimme ist jetzt
ein bißchen heiser, und Mutti sagt überhaupt
nichts, sie schluckt nur so komisch.
„Weinst du, Mutti?" Heino reißt mühsam die
Augen auf, aber da ist immer noch der Nebel, und
das Sprechen geht so furchtbar schwer.
„Ich wollte nicht weglaufen, bestimmt nicht. Bloß
mal in das Wäldchen wie voriges Jahr. Weißt du
noch, Vati? Und auf einmal war da der Abgrund.
Vielleicht hab ich nicht richtig aufgepaßt."
„Ja, mein Junge, ich weiß. Man paßt nicht richtig
auf, und dann ist da der Abgrund. Aber von jetzt
ab, mein Junge ..."
Das ist wieder Vaters Stimme, eine warme tröst=
liehe Stimme. Mutti sagt immer noch nichts. Sie
streichelt bloß seine Hand, und dabei weint sie
ganz leise. Und sogar dieses Weinen ist jetzt tröst=
lieh und gut.
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Der Mond beglänzt den Palmengarten.
Die Adria gluckst ganz diskret.
Das ist die Zeit der Speisekarten —
wenn man nur wüßte, was drauf steht!
Man braucht dem Kellner nur zu winken,
er hat sie immer bei der Hand.
Zunächst bestellt man was zum Trinken —
das Wörtchen „Wein" ist weltbekannt.
Dann greift man nach dem Speisekärtchen
und tippt ganz blind auf Zeile drei —
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der Kellner mit dem Menjoubärtchen
bringt Thunfisch mit Kartoffelbrei.
Man schlingt das ölig=braune Stippchen,
am liebsten riefe man ganz laut
nach einem echten deutschen Rippchen
mit Bauernbrot und Sauerkraut!
Man soll nicht in die Fremde reisen,
bevor man ihre Sprache spricht,
sonst muß man dauernd Thunfisch speisen,
und alle Tage schmeckt das nicht!
Hans=Erich Richter