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Von der Steinkohle
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/^-Vls Wärme, Licht und Kraft — in diesem Drei=
klang von wunderbarer Harmonie — bietet der
heimische Energieträger Kohle immer wieder und
sicherlich auch noch auf lange Sicht seine unschätz=
baren Gaben an. Darüber hinaus aber ist die
Kohle selbst für den Chemiker, dessen wichtigsten
Rohstoff sie bildet, bis auf den heutigen Tag in
vielem noch voller Rätsel. Von diesen Rätseln hat
die Chemie noch lange nicht alle lösen können.
Nichts von dem, was die Technik als „Kohlederi*
vate" braucht, findet sich vorgebildet in der Kohle,
kein Benzol und kein Naphtalin; es fehlen ihr
Karbolsäure, Ammoniak und Anilin. Erst in der
Hitze des Koksofens, in der Kokerei, in der Gas=
anstaltsretorte oder in dem Generator wird das
Heer der Kohlenwertstoffe zu eigenem Leben er=
weckt, das so vielgestaltig ist, daß es selbst von
Dichterphantasie nicht bunter und gestaltenreicher
ersonnen werden könnte.
Durch die chemische Umsetzung des Benzols, die*
ses aus der Kohle gewonnenen wertvollen Be*
triebskraftstoffes unseres motorisierten Zeitalters,
entsteht eine Welt jener Stoffe, aus denen die hoch=
entwickelte organisch=chemische Technik schöpft.
Ohne den Geist unserer Forscher, die immer tiefer
in die Geheimnisse der Kohle und der aus ihr ge=
wonnenen Wertstoffe eindrangen, müßten wir das
bunte, leuchtende Spiel der Anilin* und Alizarin*
färben entbehren wie unsere Altvordern, die diese
Farbenwunder noch nicht kannten. Wir wüßten
auch nichts von jenen selbst mit schärfsten Mikro=
skop uns noch unsichtbar bleibenden bakteriellen
Würgern, so vom Tuberkelbazillus, wenn nicht
dem suchenden Auge eines Robert Koch die vita*
len, aus der Kohle gewonnenen Farbstoffe zu
Hilfe gekommen wären. Weit war der Weg vom
lichtempfindlichen Marvein bis zum unverwüst*
liehen Indanthren, bis zum Indigo und zum kiinst=
liehen Purpur. Gewaltiges hat die Forschung voll=
bracht von den ersten gleichsam noch tastenden
Schritten, als sie die synthetischen Fieberbekämp*
fer fand, bis zu den hochwirksamen Arzneimitteln
und Heilstoffen unserer Tage.
Feiner und immer feiner formen Wissenschaft und
chemische Kunst die Kohlenabkömmlinge um. Wo
liegen ihre Grenzen? Die Süßstoffe — wohl sind
sie Ersatzmittel, doch halfen sie uns in der Zucker*
not des Krieges — machen dem Stoffwechselkran*
ken seine streng geregelte Kost erträglicher. Die
Wunder der Kamera wären ohne Entwickler, ohne
Verstärker oder Abschwächer des Negativs nim*
mer das geworden, was sie für die Lichtbildkunst
und Kinoaufnahmen uns heute bedeuten. Am
Kohlestammbaum finden sie mit Recht ihren Platz.
Heliotrop und Waldmeisterduft, das Aroma der
Vanilleschote wie der Phenylaethylalkohol ein
wesentlicher Anteil des Rosenöls, breitet die
Riechstoffindustrie aus Abkömmlingen der Kohle.
Auch der Landwirt, der Winzer, der Obstzüchter
holen ihre wirksamsten Schädlingsbekämpfer aus
dem unerschöpflichen Vorrat der Kohle. Aber nicht
nur in der Erzeugung von Geschmacks* und Riech*
stoffen, auch in Kunststoffen, Kunstharzen und
dem künstlichen Kautschuk, in der Sprengstoff*
fabrikation, in der wachstumfördernden Ackernah*
rung, im Ammonsulfat und künstlichen Salpeter:
allüberall stecken die Kohlenderivate. Zahllos sind
die chemischen Verbindungen, die sich aus der
chemischen Umsetzung des Benzols ergeben, Le*
gion aber die Versuche, die in den chemischen La*
boratorien durchgeführt wurden, bevor es gelang,
die vielen Kohlenwasserstoffverbindungen, die im
Teer enthalten sind, zu trennen. Oft kam dabei
den Forschern der Zufall zu Hilfe, oft aber folgten
sie bei ihren Versuchen einer Ahnung, einen Ein*
gebung. Und wenn dann in den Reagenzgläsern,
in den Retorten oder Kolben die erwartete Fär*
bung, Ausscheidung, oder was immer sie erhoff*
ten, eintrat, dann zitterten ihre Hände, dann stan*
den sie bewegt vor der Tatsache, der Kohle und
damit der Natur wieder ein Geheimnis abgerungen
zu haben.
So umwogt uns tagtäglich aus der Kohle, dem
Urprodukt der Schöpfung und dem natürlichen
Reichtum auch unserer Heimat, eine Fülle der Ge*
sichte, auferstanden aus der Sonnenenergie, die
wie heute so in grauer Vorzeit auf unseren Erden*
stern herniederstrahlte. Walter Albrecht