Full text: 1960 (0088)

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Von der Steinkohle 
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/^-Vls Wärme, Licht und Kraft — in diesem Drei= 
klang von wunderbarer Harmonie — bietet der 
heimische Energieträger Kohle immer wieder und 
sicherlich auch noch auf lange Sicht seine unschätz= 
baren Gaben an. Darüber hinaus aber ist die 
Kohle selbst für den Chemiker, dessen wichtigsten 
Rohstoff sie bildet, bis auf den heutigen Tag in 
vielem noch voller Rätsel. Von diesen Rätseln hat 
die Chemie noch lange nicht alle lösen können. 
Nichts von dem, was die Technik als „Kohlederi* 
vate" braucht, findet sich vorgebildet in der Kohle, 
kein Benzol und kein Naphtalin; es fehlen ihr 
Karbolsäure, Ammoniak und Anilin. Erst in der 
Hitze des Koksofens, in der Kokerei, in der Gas= 
anstaltsretorte oder in dem Generator wird das 
Heer der Kohlenwertstoffe zu eigenem Leben er= 
weckt, das so vielgestaltig ist, daß es selbst von 
Dichterphantasie nicht bunter und gestaltenreicher 
ersonnen werden könnte. 
Durch die chemische Umsetzung des Benzols, die* 
ses aus der Kohle gewonnenen wertvollen Be* 
triebskraftstoffes unseres motorisierten Zeitalters, 
entsteht eine Welt jener Stoffe, aus denen die hoch= 
entwickelte organisch=chemische Technik schöpft. 
Ohne den Geist unserer Forscher, die immer tiefer 
in die Geheimnisse der Kohle und der aus ihr ge= 
wonnenen Wertstoffe eindrangen, müßten wir das 
bunte, leuchtende Spiel der Anilin* und Alizarin* 
färben entbehren wie unsere Altvordern, die diese 
Farbenwunder noch nicht kannten. Wir wüßten 
auch nichts von jenen selbst mit schärfsten Mikro= 
skop uns noch unsichtbar bleibenden bakteriellen 
Würgern, so vom Tuberkelbazillus, wenn nicht 
dem suchenden Auge eines Robert Koch die vita* 
len, aus der Kohle gewonnenen Farbstoffe zu 
Hilfe gekommen wären. Weit war der Weg vom 
lichtempfindlichen Marvein bis zum unverwüst* 
liehen Indanthren, bis zum Indigo und zum kiinst= 
liehen Purpur. Gewaltiges hat die Forschung voll= 
bracht von den ersten gleichsam noch tastenden 
Schritten, als sie die synthetischen Fieberbekämp* 
fer fand, bis zu den hochwirksamen Arzneimitteln 
und Heilstoffen unserer Tage. 
Feiner und immer feiner formen Wissenschaft und 
chemische Kunst die Kohlenabkömmlinge um. Wo 
liegen ihre Grenzen? Die Süßstoffe — wohl sind 
sie Ersatzmittel, doch halfen sie uns in der Zucker* 
not des Krieges — machen dem Stoffwechselkran* 
ken seine streng geregelte Kost erträglicher. Die 
Wunder der Kamera wären ohne Entwickler, ohne 
Verstärker oder Abschwächer des Negativs nim* 
mer das geworden, was sie für die Lichtbildkunst 
und Kinoaufnahmen uns heute bedeuten. Am 
Kohlestammbaum finden sie mit Recht ihren Platz. 
Heliotrop und Waldmeisterduft, das Aroma der 
Vanilleschote wie der Phenylaethylalkohol ein 
wesentlicher Anteil des Rosenöls, breitet die 
Riechstoffindustrie aus Abkömmlingen der Kohle. 
Auch der Landwirt, der Winzer, der Obstzüchter 
holen ihre wirksamsten Schädlingsbekämpfer aus 
dem unerschöpflichen Vorrat der Kohle. Aber nicht 
nur in der Erzeugung von Geschmacks* und Riech* 
stoffen, auch in Kunststoffen, Kunstharzen und 
dem künstlichen Kautschuk, in der Sprengstoff* 
fabrikation, in der wachstumfördernden Ackernah* 
rung, im Ammonsulfat und künstlichen Salpeter: 
allüberall stecken die Kohlenderivate. Zahllos sind 
die chemischen Verbindungen, die sich aus der 
chemischen Umsetzung des Benzols ergeben, Le* 
gion aber die Versuche, die in den chemischen La* 
boratorien durchgeführt wurden, bevor es gelang, 
die vielen Kohlenwasserstoffverbindungen, die im 
Teer enthalten sind, zu trennen. Oft kam dabei 
den Forschern der Zufall zu Hilfe, oft aber folgten 
sie bei ihren Versuchen einer Ahnung, einen Ein* 
gebung. Und wenn dann in den Reagenzgläsern, 
in den Retorten oder Kolben die erwartete Fär* 
bung, Ausscheidung, oder was immer sie erhoff* 
ten, eintrat, dann zitterten ihre Hände, dann stan* 
den sie bewegt vor der Tatsache, der Kohle und 
damit der Natur wieder ein Geheimnis abgerungen 
zu haben. 
So umwogt uns tagtäglich aus der Kohle, dem 
Urprodukt der Schöpfung und dem natürlichen 
Reichtum auch unserer Heimat, eine Fülle der Ge* 
sichte, auferstanden aus der Sonnenenergie, die 
wie heute so in grauer Vorzeit auf unseren Erden* 
stern herniederstrahlte. Walter Albrecht
	        
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