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VON ULLA RONGE
Ursel und Steffi
umme Gans, du!" Die drei Jungen rennen
johlend davon. In fünf Meter Abstand bleiben sie
abwartend stehen. In ihrer Haltung spürt sie die
bitterste Verhöhnung.
Von Michael und Hanno ist sie es gewohnt. Sie
haben keine Schwester und spielen nur ihre derben
Jungenspiele. Nächstes Jahr kommen sie alle vier
in die Schule. Dann werden sie sich „bessern", hat
Mama gesagt. Aber derjenige, der „dumme Gans"
gerufen hat, ist ausgerechnet Steffi, ihr bester und
einziger Freund.
Immer, wenn er mit anderen Jungen zusammen ist,
kommt es über ihn, wird er so ein Rüpel. Dann
ist sie Luft für ihn, glatte, durchsichtige Luft. Seine
Augen bekommen diesen fremden trotzigen Aus=
druck. Zutiefst kann er sie kränken.
Vergessen sind dann die schönen friedlichen Spiele
in ihrem Kinderzimmer. Im umgekippten Spieltisch
segeln sie auf hoher See, Vater, Mutter und alle
Puppen und der Teddybär als Kinder. Steffi ist
dann gut und lieb mit seinen blonden Locken und
blauen Augen, fast wie ein Mädchen. Hinterher
knacken sie in der Küche Nüsse, seine Lieblings=
speise. Sie gibt sie ihm gern. — Als Belohnung für
sein braves Spiel sozusagen.
„Was willst du eigentlich von mir? Was hab ich
dir getan?" Sie hält die Arme am Rücken ver=
schränkt. Die Finger krallen sich erbost ineinander.
Der Mund verzieht sich langsam zu einem Flunsch.
In den großen dunklen Augen steht das Wasser.
Die langen braunen Wimpern gehen rhythmisch
wie ein Scheibenwischer. Vergeblich . . .
Die erste Träne perlt langsam und gewichtig die
Backe herunter. Sollte sie. Er kann ruhig sagen,
daß sie wütend auf ihn ist, ungeheuer wütend!
Seine Mundwinkel bekommen einen harten, spöt=
tischen Zug. Nun verachtet er mich, denkt sie. Mir
gleich. Ihre Augen werden kreisrund. Sie stampft
mit dem Fuß auf. Die Jungen kichern.
Michel und Hanno werden gerufen. Nun ist Steffi
allein. Er kommt neugierig einige Schritte näher.
Sie sieht so spaßig aus in ihrer Wut, denkt er. Er
vertieft seine kleinen Jungenfäuste in die Hosen=
taschen. Er wippt in den Fußspitzen und zieht den
Oberkörper nach hinten. 5ie kennt diese Bewegung
an ihm genau. — Immer, wenn er sich so groß
fühlt. — Jetzt wird er gleich lachen, über mich
lachen, denkt sie grimmig.
Und schon bricht es aus ihm heraus, ein unbändi=
ges, fröhliches Jungenlachen.
Ihre Tränen haben freie Fahrt.. .
Steffi fingert in den Hosentaschen. Natürlich kein
Schnupftuch. Zum Teufel mit allen Schnupftüchern
der Welt! Wenn man sie braucht, sind sie nicht da.
Sie nimmt ihren Schürzenzipfel und wischt in den
Eine kleine Jungenhand legt sich fest auf ihre Schulter:
„Reib’ nicht so, du kriegst ja rote Augen.”
Augen herum. Eine kleine Jungenhand legt sich
fest auf ihre Schulter: „Reib' nicht so. Du kriegst
ja rote Augen."
Plötzlich flüstert er ganz nah an ihrem kleinen
rundlichen Ohr: „Magst du Schweizerkäse? Wir
haben welchen in der Speisekammer."
Die dummen Tränen sind sofort versiegt. Genie=
ßerisch reibt sie sich das Bäuchlein: „Hm, SchweU
zerkäse, meine Lieblingsspeise."
Alles Leid und aller Kummer sind verflogen. Hand
in Hand gehen sie hinauf zu seiner Mutter.