Full text: 1960 (0088)

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kaiserlicher Freiheitsbriefe das alleinige Recht übertragen worden war an allem, was man unter und 
über der Erde fand, und sei es Gold, Silber, Kupfer, Blei, Eisen und Steinkohle. Den Bergleuten verblieb 
zwar weiter das Recht zu schürfen, doch mußten sie einen festen Zins aufs Jahr zahlen, den Gruben* 
gült. Bedingung war aber, daß sie nunmehr in fachmännisch verbauten Stollen gruben. Die Bergleute 
fanden sich in einem eigenen Gewerbe zusammen und bildeten eine eigene Zunft, und aus ihr entwik* 
kelte sich im Lauf der Jahrhunderte der Bergmann unserer Tage. 
Durch die intensive Erschließung der Kohle um die Mitte des vorigen Jahrhunderts und den raschen 
Aufschwung der Industrie war zuerst ein Vakuum entstanden. Die Arbeitskräfte fehlten. Da strömten 
die Menschen aus den kleinbäuerlichen Randgebieten des Hochwalds und der Pfalz herbei, sie waren 
erst alle einmal heimatlos, fremd, entwurzelt. Aber eine kluge und weitblickende Siedlungspolitik ver= 
stand es, diese Menschen seßhaft zu machen, bodenständig, sie an den neuen Heimatraum zu binden. 
Man unterstützte die zugewanderten Bauernsöhne in ihrem angeborenen Drang nach einem eigenen 
Stück Land, man gab ihnen gleichsam das verlorene Haus wieder zurück, ein Haus im weiten Sinne, 
nämlich das Haus, zu wohnen, und das andere, ihre Felder zu bebauen, zu säen, zu ernten, Vieh zu hal= 
ten, wie sie es daheim getan hatten. Diese Bergmannsdörfer, Reih an Reih gebaut, umgeben von Wie* 
sen und Feldern, sieht man aller Wege bei uns, und man sieht sie nirgendwo anders als so. 
So wurde der bergmännische Bauer oder der bäuerliche Bergmann. Zwei scheinbar unvereinbare, un= 
verschmelzbare Lebensformen wuchsen zu einer Einheit zusammen, und aus dieser Einheit bildete sich 
ein völlig neuer Berufsstand, der mit seiner den natürlichen Kräften des Lebens verbundenen, an Tradi* 
tion, Sitte, Brauch und Urväterglauben festhaltenden Lebensweise gefeit blieb gegen die extremistischen 
Mächte der Zerstörung. 
Ein Mensch, der als Bergmann täglich sein Leben aufs Spiel setzen muß, um zu leben, und der als 
Bauer gleichsam Gott zum Brotherrn hat, verschließt notwendigerweise sein Ohr den Programmen und 
Manifestationen nur diesseitiger Verheißungen und Ideologien. Aus den zugewanderten Bauern wurde 
ohne Übergang der Bergmannsbauer an der Saar. Ein Kumpel ist er nie gewesen, schon immer hat er 
sich als Bürger verstanden und gefühlt. So hat auch heute noch ein Teil der Bergleute Land und Vieh 
und Besitz nebenher. Der Industriebergmann von heute nimmt dank der sozialen Errungenschaften teil 
an den Gebrauchsgütern unserer Gesellschaft. Mancher hat seinen Kleinwagen, sein eigenes Haus, wenn 
er nicht in einer der freundlichen Siedlungen wohnt, die man, versehen mit allem kleinbürgerlichen Kom= 
fort, für ihn an den sonnigsten Plätzen erbaut hat. 
Jahraus, jahrein bin ich kreuz und quer durch die Heimat gezogen. Ich habe die Täler durchwandert, 
die Wälder, den Warndt, den Kohlwald, den Westrich, den Kammerforst und wie sie alle heißen und 
wo sie auch wachsen, diese alten, weiten Forsten mit ihren Buchen, Eichen, Fichten und Kiefern. 
Dann wieder stand ich vor dem bizarren Aufbau der Hütten mit ihren rauchenden Schloten, Kuppel* 
Öfen, Kranen, Schrägaufzügen und Rohrlei tungen, dieser gewaltigen Retorte der Arbeit. Ich beobach* 
tete die Glasbläser, wenn sie mit ihren lan gen eisernen Blaspfeifen aus dem flüssigen Glas, das sie den 
Häfen entnahmen, die zauberhaftesten Kunstgebilde bliesen: Weinkelche, Vasen, Karaffen, Schüsseln, 
Teller, farbige Römer und Krüge. Ich stand hinter dem ehrbaren alten Meister in der Kristallschleiferei, 
der mit dem Schleifrad seine Muster und Ornamente in das harte, funkelnde Kristall eingrub, Sonnen, 
die strahlten, Blumen, die sich aufschlossen, Vögel und kreisende Sterne. Ich sah den Schiffern zu, die 
ihre kohlenbeladenen Frachtkähne durch die Saarschleuse brachten und dann weiter durch den Kanal 
nach Frankreich hinein. Ich sah ihnen zu, wie sie ihre Schiffe teerten und scheuerten und abschwenk* 
ten, wie sie in ihren Holzschuhen über das schmale Gangbord gingen und wie die Frauen Wasser in ihre 
Eimer laufen ließen aus dem Brunnen am Leinpfad und wie sie die gefüllten Eimer mit dem Schulter* 
joch aufs Schiff trugen. 
Doch immer wieder trieb es mich aus der grauen Stadt der Steine und des Asphalts hinaus ins Freie und 
Weite, und kein Jahr verging ehedem, ohne daß ich im Hochwalddorf meiner Mutter war. Wovon es 
die Mutter weggezogen hat, weil sie Weggehen mußte, da das Land so viele Kinder nicht mehr ernähren 
konnte, dorthin zog es ihren Sohn immer wieder zurück. 
„Bist du wieder da?" sagte dann in ihrer Hochwälder Mundart meine Großmutter. Seit langen Jahren 
saß sie gelähmt in ihrem „Sorgenstuhl", die stahlgefaßte Brille vor den großen, glänzenden, braunen 
Augen. „Nun komm' und setz' dich, und bringt dem Bübchen was zu essen!" 
Danach saß ich auf dem Bänkchen zu ihren Füßen. Neben ihr standen die Krücken, auf ihrem Schoß 
lag die zerlesene Bibel, dies alte dicke Buch mit den großen schwarzen und roten Buchstaben, den bun* 
ten Bildern und den bräunlich abgewetzten Ecken, in dem sie immer las, mit aufmerksam gerunzelter
	        
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