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Spiegelmensch, ein Kupferstich von Nicolas de l'Armessin
(Anfang des 18. Jahrhunderts)
sich nur ein lebendiger Kopf befindet. Natürlich
kniet die Person unter dem Tisch und hat nur
ihren Kopf durch ein Loch in der Tischplatte ge=
steckt. Den knienden übrigen Körper verdeckt
eine Spiegelplatte, die übereck zwischen zwei
Tischbeine (z. B. links hinten und rechts vorn)
senkrecht eingepaßt ist. Der Tisch erscheint unter
der Platte leer. Das verdeckte hintere (vierte)
Tischbein wird vorgetäuscht, indem der Spiegel an
dieser Stelle das zugehörige Vorderbein spiegelt.
Einen sehr ähnlichen Trick zeigt man neuerdings
mit einer raffinierten Spiegeleinrichtung unter der
Bezeichnung „Mensch ohne Kopf"!
Großartige Illusionen, z. B. Geistererscheinungen,
werden mit Spiegeltricks gezeigt. Bisweilen versu»
chen Schlaumeier die Schausteller zu entlarven,
indem sie — mit Taschenlampen und Taschenspic=
gel bewaffnet — Lichtreflexe auf die Apparaturen
der Bühne werfen. Jeder Spiegel muß das Licht
zurückwerfen und sich dadurch unweigerlich ver»
raten.
Interessant ist das Verhalten vieler Tiere vor dem
Spiegel. Kanarienvögel im Bauer sehen ihre Spie»
gelbilder als Artgenossen an, Kanarienhähne
kämpfen sogar mit ihren Bildgegnern, Affen hal»
ten Taschenspiegel ganz dicht ans Auge und schei»
nen sich gewissermaßen selbst zu hypnotisieren.
Hunden springen bisweilen bellend hinter den
Spiegel. Katzen reagieren kaum. Hennen sollen
ihre Küken von einem Spiegel wegscheuchen.
Spiegelpaläste sind der Beweis dafür, daß die Er»
bauer sich besondere Eindrücke davon versprachen.
Spiegelkabinette fanden sich in fast allen Schlös»
sern der Renaissancezeit (15. bis 17. Jahrhundert).
Räume scheinen stark vergrößert, Lichtreflexe be=
leben, Spione sind entweder leichter zu entdecken
oder zu verstecken. Die Eitelkeit kann sich selbst»
gefällig demonstrieren. Der Dichter Wolfram von
Eschenbach singt im Parzival von einer seltsamen
Spiegelsäule:
„Da fand er Wunder übergroß,
Daß ihn das Schauen nicht verdroß.
Ihn deuchte, daß er Fern und Nähe
In der Säule gespiegelt sähe.
Die Länder drehten sich im Kreise,
Es drängten sich in Kampfesweise
Die großen Berge aneinander,
In der Säule fand er
Leute reiten, Leute gehen."
Magische Spiegel werden überaus häufig in der
Literatur erwähnt. Das Märchen vom Schneewitt»
chen und der bösen Stiefmutter mit dem „Spieg»
lein, Spieglein an der Wand ..kennen wir alle.
Spiegel, die die Untreue anzeigen oder die Zukunft
Voraussagen, treten häufig auf. Goethe läßt den
Faust in der Hexenküche in einen Zauberspiegel
sehen:
„Was seh ich, welch ein himmlich Bild
Zeigt sich in diesem Zauberspiegel,
O Liebe, leihe mir die schnellsten deiner Flügel!
Und führe mich in ihr Gefild.
Wehe mir, ich werde schier verrückt. . ."
So schaut Faust in die Zukunft und begehrt, daß
der Teufel ihm „die Schöne" zuführe.
Venezianischer Spiegel (um 1500)