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Dich her auf die Bank, und morgen früh kannst
Du ja weitergehen!" — Bei den freundlichen
Worten verlor das Mädchen seine Angst, legte
sich auf die Bank und schlief ein. —
Es war schon heller Morgen, als es erwachte.
Wo war der Mann in dem schwarzen Mantel?
Wo war die Bank, auf der es geschlafen hatte?
Das Mädchen schaute sich um und um und fand
sich nicht mehr zurecht. Es befand sich in einem
kleinen Stübchen, und als es zum Fenster hin
ausschaute, sah es, daß es ganz oben im Turm
gefangen war, denn die Tür war fest verschlos
sen.
Als sie sich verzweifelt umwandte, erblickte
es in einer Ecke einen Käfig, in dem ein Rabe
saß. Er sah das Mädchen traurig an und sprach:
„Nun bist Du auch gefangen, wie ich, und der
alte Zauberer wird Dich verzaubern wie er mich
verzaubert hat."
Erschrocken fragte das Mädchen: „Gibt es
denn keine Rettung?" „Keine!“ sprach der Rabe,
„oder wer sollte uns den Schlüssel hier herauf
auf die oberste Spitze des Turmes bringen, den
Schlüssel, der auf jedes Schloß paßt?“ Neugie
rig fragte das Mädchen: „Was ist das für ein
Schlüssel?" Mit diesem Schlüssel könnten wir
die Zimmertür, die Tür meines Käfigs und die
Schublade des Zauberers öffnen", antwortete
der Rabe.
„Warum die Schublade des Zauberers?" wollte
das Mädchen wissen, und der Rabe erwiderte:
„Dort befindet sich ein Fläschchen mit einer hel
len Flüssigkeit. Könnten wir dem Zauberer da
von drei Tropfen auf die große Hakennase träu
feln, dann wäre der ganze Zauber gebrochen und
wir wären frei. Den Schlüssel aber hängt der
Zauberer jeden Abend, bevor er schlafen geht,
an den obersten Zweig des Nußbaumes vor der
Tür.“
Das Mädchen hatte gut zugehört. Es überlegte
einen Augenblick, dann holte es das Pfeifchen,
das es von der weißen Katze bekommen hatte,
aus seiner Tasche und ließ damit einen leisen
Pfiff ertönen. Schon raschelte es im Efeu, und
die weiße Katze erschien im offenen Fenster.
„Du brauchst mir gar nichts zu erzählen", sagte
sie, „ich weiß Bescheid und werde Dir helfen —
warte bis es dunkel geworden ist!" — und schon
war sie auch wieder verschwunden.
Das Mädchen konnte die Zeit kaum erwarten.
Schon lange, ehe die Sonne unterging, hielt es
Ausschau nach der weißen Katze. Aber erst, als
es ganz finster geworden war, raschelte es wie
der im Efeu, und die Katze erschien, im Maul
den Zauberschlüssel. Leise legte sie ihn auf die
Fensterbank und verschwand. Zitternd vor Auf
regung nahm das Mädchen den Schlüssel an sich
und öffnete die Tür des Turmstübchens. „Sei
leise und vorsichtig!" mahnte der Rabe.
Da träufelte das Mädchen dem Zauberer drei klare
Tropfen auf die Nase . . .
Auf Zehenspitzen schlich sich das Mädchen
die vielen, vielen Treppenstufen des Turmes
hinab, bis in das Zimmer des Zauberers. Der lag
auf seinem Bett und schnarchte, die Nase gegen
die Decke gestreckt. Vorsichtig schloß das Mäd
chen die Schublade des Zauberers auf und rich
tig! — dort lag das Fläschchen mit dem Zauber
saft! Des Mädchens Hand zitterte, als sie den
Korken löste. Dann wurde es ruhig und träu
felte dem Zauberer drei klare Tropfen auf die
Nase. Augenblicklich erdröhnte die Luft von
einem Donnern und Krachen, daß dem Mädchen
die Sinne schwanden. Als es wieder zu sich kam,
war der ganze Turm mit dem Zauberer ver
schwunden. Nur der hohe Nußbaum stand noch
da, und auf seinem obersten Ast hing der Käfig
mit dem Raben,
Da holte das Mädchen wieder die Pfeife her
vor, und gleich erschien auch die weiße Katze.
Das Mädchen reichte ihr den Zauberschlüssel,
den es noch fest in der Hand hatte. Die Katze
kletterte behend den hohen Baum hinauf, öffnete
die Tür des Käfigs und legte sich dann zu des
Mädchens Füßen nieder. Der Rabe aber entflog
mit freudigem Gekrächz seinem Käfig. Dann ließ
er sich zu des Mädchens Schultern nieder. Kaum
aber hatte er sie berührt, verwandelte er sich
in einen wunderschönen Königssohn, und im
gleichen Augenblick erhielt auch die weiße
Katze eine menschliche Gestalt. Sie war die
Mutter des Prinzen und lachend und weinend
fielen sie sich um den Hals. Sie nahmen das
Mädchen mit auf ihr Schloß, wo ihnen fünf rei
zende Prinzessinnen entgegenkamen. Es waren
die fünf weißen Kätzchen, die das Mädchen ge
rettet hatte. Sie alle aber hatte der böse Zau
berer verwünscht und durch des Mädchens Mut
und Tapferkeit waren sie erlöst worden. Der
Prinz fand Gefallen an dem Mädchen, und bald
wurde eine herrliche Hochzeit gefeiert, und alle
lebten zusammen glücklich und zufrieden bis an
ihr Ende!