Full text: 1958 (0086)

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Von Ingeborg Petersen 
a dribbelt er vor mir her, mitten auf der Fahr 
bahn; noch ein paar unbeholfene Hüpferl — 
und laut piepsend hat er den Bürgersteig er 
reicht. 
Das ist wohl dein erster Ausflug in die feind 
liche, drohende Welt? Ein paar Tage noch gehör 
test du in die warme Geborgenheit des Nestes 
und die schützende Fürsorge deiner Buchfink- 
Eltern! 
Rührend hilflos hockt er nun da, ein kleines 
Wesen, das winzige Körperchen noch mit zartem 
Flaum bedeckt. 
Soll ich versuchen, dich vor den tausend Ge 
fahren, die dir drohen, zu schützen? Wie würdest 
du erschrecken, wenn ein riesiger Schuh dich an- 
stöße, wenn ungeschickte Kinderhände hart zu 
packten, oder gar die Katze ... 
Zart und behutsam umschließt ihn meine Hand 
und — welch ein Glück — er fühlt sich geborgen, 
fast als wäre er wieder im Nest, und schon öffnet 
er sperrangelweit den Schnabel. Schnell nach 
Hause; wollen sehen, wie die Speisekarte der 
Buchfinken aussieht. Das Vogelbuch sagt: Buch 
finken sind Körnerfresser, es sagt aber nicht, 
was ein soeben aus dem Nest gefallener Buch 
fink mag, dem eigentlich noch die Vogelmutter 
die Mahlzeiten ins Kröpfchen stecken müsste. 
Picken hat er auch noch nicht gelernt und nur 
das Schnäbelchen steht immer bittend weit offen. 
Milch mögen alle Kinder, vielleicht auch die 
Vogelkinder. Ein paar Tröpfchen Dosenmilch in 
einer Pipette aufgezogen und hinein in das 
Schnäbelchen! Aha, das schmeckt, und er 
schluckt Tröpfchen für Tröpfchen. 
Nun klingt das Piepen schon entschieden kräf 
tiger und energischer. Hier geht es ihm gut und 
er beginnt sogar Interesse für die Umgebung zu 
zeigen. Auf dem Küchentisch ist es interessant, 
Dinge stehen da, die man sonst als Buchfink nicht 
zu sehen bekommt. Dazwischen wird ein kurzes 
Nickerchen gemacht, das gibt Kraft für neue 
Abenteuer. Bums, da fliegt er gegen die Fenster 
scheibe; das konnte er ja auch nicht ahnen, daß 
er nicht gleich auf den Baum fliegen kann, den 
er doch vom Küchentisch herüberwinken sieht 
Mir scheint, es ist noch zu früh, dir die Frei 
heit zu geben, aber wehtun sollst du dir auch 
nicht bei den Versuchen, in dein eigentliches 
Element zurückzufinden. Bitte sehr, kleiner Buch 
fink, das Fenster ist geöffnet, die Welt steht dir 
offen! 
Nach einigen komischen wippenden Versu 
chen — ein Ruck, und er sitzt im Baum. Hoffent 
lich ereilt dich dein Schicksal nicht gar so 
schnell, ich hätte dich so gerne noch beschützt. 
Kurze Zeit höre ich noch vom Garten her das 
laute Piepsen, mal näher, mal entfernter, und 
dann nicht mehr. Ob er wohl zu seinen Eltern 
zurückgefunden hat? 
Nach zwei Stunden ist das Piepsen wieder 
ganz deutlich und nah zu vernehmen. Trotzdem 
muß ich suchen, bis ich ihn endlich finde. In dem 
bunten Blumenbeet vor dem Fenster hockt ein 
armseliges, graues, nasses Etwas. Es hat inzwi 
schen geregnet, und die winzigen Flügel hatten 
das Körperchen wohl nicht mehr tragen können. 
Wie klug, daß er hierher zurückgefunden hat. 
Schnell trocknen und aufwärmen in der warmen 
Küche und ein Häppchen Futter! Aber als ich 
mit der Pipette in seine Nähe komme, beißt er 
mit seinem kleinen Schnabel fest in meinen Fin 
ger. Sehr schön — wir haben also picken ge 
lernt draußen im Leben. Nun, hier ist ein wenig 
gekochter Reis und siehe, pick-pick, verschwin 
den ein paar Körnchen im Schnäbelchen. 
Die Kräftigung macht schnelle Fortschritte. 
Munter und laut piepsend hüpft er in der Küche 
umher. Dazwischen die Augen zu, ein wenig 
Schlaf, ein kleiner Happen ins Schnäbelchen, 
und nach einer weiteren Stunde fliegt er von 
der Fensterbank bis zum höchsten Baum in 
Nachbars Garten. 
Alle meine guten Wünsche begleiten ihn. 
Wenn im kommenden Winter unter meinen 
hungrigen Gästen an der Futterstelle auch ein 
schöner, kräftiger Buchfink sein wird, dann hoffe 
ich, es möge mein kleiner Freund von heute 
sein. Ich aber werde dann stolz und glücklich 
sein, weil ich etwas dazu getan habe, ein klei 
nes Lebewesen zu retten — und sei es auch nur 
ein kleiner verirrter Buchfink.
	        
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