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Von Ingeborg Petersen
a dribbelt er vor mir her, mitten auf der Fahr
bahn; noch ein paar unbeholfene Hüpferl —
und laut piepsend hat er den Bürgersteig er
reicht.
Das ist wohl dein erster Ausflug in die feind
liche, drohende Welt? Ein paar Tage noch gehör
test du in die warme Geborgenheit des Nestes
und die schützende Fürsorge deiner Buchfink-
Eltern!
Rührend hilflos hockt er nun da, ein kleines
Wesen, das winzige Körperchen noch mit zartem
Flaum bedeckt.
Soll ich versuchen, dich vor den tausend Ge
fahren, die dir drohen, zu schützen? Wie würdest
du erschrecken, wenn ein riesiger Schuh dich an-
stöße, wenn ungeschickte Kinderhände hart zu
packten, oder gar die Katze ...
Zart und behutsam umschließt ihn meine Hand
und — welch ein Glück — er fühlt sich geborgen,
fast als wäre er wieder im Nest, und schon öffnet
er sperrangelweit den Schnabel. Schnell nach
Hause; wollen sehen, wie die Speisekarte der
Buchfinken aussieht. Das Vogelbuch sagt: Buch
finken sind Körnerfresser, es sagt aber nicht,
was ein soeben aus dem Nest gefallener Buch
fink mag, dem eigentlich noch die Vogelmutter
die Mahlzeiten ins Kröpfchen stecken müsste.
Picken hat er auch noch nicht gelernt und nur
das Schnäbelchen steht immer bittend weit offen.
Milch mögen alle Kinder, vielleicht auch die
Vogelkinder. Ein paar Tröpfchen Dosenmilch in
einer Pipette aufgezogen und hinein in das
Schnäbelchen! Aha, das schmeckt, und er
schluckt Tröpfchen für Tröpfchen.
Nun klingt das Piepen schon entschieden kräf
tiger und energischer. Hier geht es ihm gut und
er beginnt sogar Interesse für die Umgebung zu
zeigen. Auf dem Küchentisch ist es interessant,
Dinge stehen da, die man sonst als Buchfink nicht
zu sehen bekommt. Dazwischen wird ein kurzes
Nickerchen gemacht, das gibt Kraft für neue
Abenteuer. Bums, da fliegt er gegen die Fenster
scheibe; das konnte er ja auch nicht ahnen, daß
er nicht gleich auf den Baum fliegen kann, den
er doch vom Küchentisch herüberwinken sieht
Mir scheint, es ist noch zu früh, dir die Frei
heit zu geben, aber wehtun sollst du dir auch
nicht bei den Versuchen, in dein eigentliches
Element zurückzufinden. Bitte sehr, kleiner Buch
fink, das Fenster ist geöffnet, die Welt steht dir
offen!
Nach einigen komischen wippenden Versu
chen — ein Ruck, und er sitzt im Baum. Hoffent
lich ereilt dich dein Schicksal nicht gar so
schnell, ich hätte dich so gerne noch beschützt.
Kurze Zeit höre ich noch vom Garten her das
laute Piepsen, mal näher, mal entfernter, und
dann nicht mehr. Ob er wohl zu seinen Eltern
zurückgefunden hat?
Nach zwei Stunden ist das Piepsen wieder
ganz deutlich und nah zu vernehmen. Trotzdem
muß ich suchen, bis ich ihn endlich finde. In dem
bunten Blumenbeet vor dem Fenster hockt ein
armseliges, graues, nasses Etwas. Es hat inzwi
schen geregnet, und die winzigen Flügel hatten
das Körperchen wohl nicht mehr tragen können.
Wie klug, daß er hierher zurückgefunden hat.
Schnell trocknen und aufwärmen in der warmen
Küche und ein Häppchen Futter! Aber als ich
mit der Pipette in seine Nähe komme, beißt er
mit seinem kleinen Schnabel fest in meinen Fin
ger. Sehr schön — wir haben also picken ge
lernt draußen im Leben. Nun, hier ist ein wenig
gekochter Reis und siehe, pick-pick, verschwin
den ein paar Körnchen im Schnäbelchen.
Die Kräftigung macht schnelle Fortschritte.
Munter und laut piepsend hüpft er in der Küche
umher. Dazwischen die Augen zu, ein wenig
Schlaf, ein kleiner Happen ins Schnäbelchen,
und nach einer weiteren Stunde fliegt er von
der Fensterbank bis zum höchsten Baum in
Nachbars Garten.
Alle meine guten Wünsche begleiten ihn.
Wenn im kommenden Winter unter meinen
hungrigen Gästen an der Futterstelle auch ein
schöner, kräftiger Buchfink sein wird, dann hoffe
ich, es möge mein kleiner Freund von heute
sein. Ich aber werde dann stolz und glücklich
sein, weil ich etwas dazu getan habe, ein klei
nes Lebewesen zu retten — und sei es auch nur
ein kleiner verirrter Buchfink.