wunderung zusah. Die Buben spielten unter Füh
rung Hansi’s nämlich „Almauftrieb“, das heißt,
einige von ihnen wurden von dem Anführer
kurzerhand zu Kühen gemacht, während die
Ubriggebliebenen sich in echte Schweizer Sennen
verwandelten. Der alten Bergehalde wurde es
wahrhaftig nicht mehr langweilig. Einmal schlepp
ten die Buben gar Holzbalken hinauf und be
gannen eine Grube auszuheben, über die sie die
herbeigeschleppten Holzstämme legten. Die Senn
hütte war fertig. Nach Ansicht des Schweizer Bu
ben gehörte eine solche nun einmal auf eine Alm,
und kindlicher Phantasie sind keine Grenzen ge
setzt. Aus der ärmsten Hütte vermag sie ein
Königschloß zu machen — und aus einer Grube
mit einem Holzdach die schönste Sennhütte.
Der Schritt der Zeit ist gleichmäßig, aber durch
nichts aufzuhalten. Einmal kam ein Frühjahr, in
dem die alte Bergehalde vergeblich nach dem
kleinen Schweizer Buben, der nun eigentlich gar
nicht mehr so klein war, und seinen Spielkame
raden Ausschau hielt. Sie wartete Tag für Tag,
aber kein Jodler kündigte ihr mehr die Ankunft
des Buben an, kein fröhliches Rufen durchbrach
die Einsamkeit, die sie nun umgab. Höchstens,
daß ein altes Weiblein, das sich im Walde ein
Bündel Holz zusammensuchen wollte, an ihr
vorübereilte, oder ein Spaziergänger daherkam,
der sie kaum beachtete und den Blich auf das
zarte Grün des Laubdaches gerichtet hielt.
Der Sommer kam und nach ihm der Herbst
mit reichem Erntesegen. Als der Winter die alte
Bergehalde freundlich mahnte, das weiße Kleid
wieder anzuziehen; stand die Sennhütte des klei
nen Schweizer Buben immer noch verwaist. Und
so blieb es lange Zeit. Die alte Bergehalde wech
selte ihre Kleider viele Male und dachte an den
Buben, der nicht mehr zu ihr kam.
Eines Tages hörte sie zwei Spaziergänger über
Krieg, Not und Elend sprechen. Sie wußte nicht,
was das war: Krieg. Aber sie fühlte, daß es
etwas Schreckliches sein mußte, weil es die
Menschen so bedrückte. Einige Nächte später
wurde sie durch ein ohrenbetäubendes Brummen
in der Luft, das schier kein Ende nehmen wollte,
aufgeschreckt. Nicht lange darauf erfüllte ein
schreckliches Bersten und Krachen die Luft, und
die alte Bergehalde dachte erschrocken: „Das ist
der Krieg, das muß der Krieg sein!“ Lange und
nachdenklich blickte sie zu der glutroten Wand
hinüber, die ganz plötzlich die Nacht zum Tage
machte.
Am nächsten Tag kamen die gleichen Spazier
gänger wieder, und sie hörte einen von ihnen
sagen: „Gestern haben sie mir meinen einzigen
Sohn geholt. Heute morgen mußte er schon in
Heidelberg sein!“ Dann liefen sie erschrocken zum
schützenden Wald hinüber, denn das Brummen
begann wieder, und drei große Vögel flogen tief
über die alte Bergehalde hinweg. Die aber dachte:
„Der Krieg hat auch gewiß meinen kleinen Schwei
zer Buben geholt!“ Und traurig dachte sie über
den bösen Krieg nach.
An das Brummen und Krachen gewöhnte sie
sich mit der Zeit, zumal es eines Tages gar nicht
mehr aufhören wollte. Es kam immer näher und
näher. Und immer mehr Menschen in Kleidern,
die sie vorher nie gesehen hatte, liefen in den
Wald hinein und wieder heraus. Sie hatten feuer
speiende Prügel bei sich und große Rohre, die
auf Rädern standen und furchtbar donnerten.
Nicht lange aber, so wurden sie in den Wald
hineingebracht, und die alte Bergehalde sah nur
noch Menschen, die in den Wald hineinliefen und
nicht mehr herauskamen. Hinter ihnen kamen
große, feurige Kugeln geflogen, die sich tief in
das graue Kleid der Bergehalde hineinbohrten
und dieses auseinanderrissen, hinter ihnen kamen
schreckliche Ungetüme, die sich auf Ketten fort
bewegten und ohne Unterlaß donnerten. Viele
der armen Menschen ließen sich zu Boden fallen,
ehe sie den Wald erreicht hatten, und rührten
sich nicht mehr. „Sie sind müde und schlafen“,
dachte die alte Bergehalde und hatte Recht. Sie
waren müde und schliefen den ewigen, den ewigen
Schlaf.
Dann geschah es. Mit den letzten der Flüch
tenden kam auch ein junger Mensch, der plötz
lich innehielt und dann seine Richtung änderte.
Ohne auf die Zurufe seiner Kameraden zu achten,
lief er auf die erstaunte Bergehalde zu, kroch über
die grauen Steine hinauf — auf die Sennhütte zu,
die unversehrt geblieben war und noch immer
auf den kleinen Schweizer Buben wartete. Ohne
zu zögern hob der junge Mensch den richtigen
Balken hoch, der den Buben einst als Türe diente,
und kroch in die schützende Grube hinein.
Die alte Bergehalde hätte auf jubeln mögen. Sie
hatte ihren Schweizer Buben wieder, denn kein
anderer konnte es sein. Sie wartete darauf, daß
er ein Jodler ausstoßen würde, aber er verhielt
sich ruhig, und statt des Jodlers kam ab und zu
nur ein leises Wimmern aus der Grube.
Erst spät in der Nacht wurde alles ruhig. Das
Schießen klang entfernter, die alte Bergehalde
lag wieder verlassen da, und nur auf der ent
fernten Straße dröhnten Motore ohne Unterlaß.
Da entstieg der junge Mensch seiner Grube, müh
sam kroch er an der Bergehalde herunter, und
vorsichtig schritt er dem Dorf zu; ohne die alte
Freundin noch eines Blickes zu würdigen. Aber
die Bergehalde war ohnehin glücklich, — sie
hatte ihren Schweizer Buben wieder gesehen. —
Zweimal hatte sie ihr Kleid gewechselt und in
der Welt war es wieder ruhig geworden. Da
kamen eines Tages zwei junge Menschen vom
Dorf herauf, eine Frau und ein Mann. Der
letztere blickte ernst zu der alten Bergehalde
hin und sagte: „Siehst du, Anna, dieser guten,
alten Halde habe ich es zu verdanken, daß ich
das bittere Los der Gefangenschaft nicht zu er