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Die Elektrifizierung der Eisenbahnlinie
Von Baurat Z e n s, HTL Saarbrücken Valenciennes — Thionville
Am 29. Juni 1955 wurde der letzte elektrifizierte
Abschnitt dieser Eisenbahnlinie eingeweiht —
das sind 11 Monate nach der Inbetriebnahme
des 1. Abschnittes — sodaß nun die ganze
Strecke dem Verkehr übergeben ist. Es lohnt
sich, auf diese kurze Zeitungsmeldung näher
cinzugehen, denn die Elektrifizierung dieser
Strecke ist nicht nur bahnbrechend in tech
nischer Beziehung, sondern auch von sehr gro
ßer wirtschaftlicher Bedeutung außer für Frank
reich, für Europa und nicht zuletzt für das
Saarland.
Bevor ich jedoch auf diese Punkte näher ein
gehe, möchte ich — ohne auf die allgemeinen
Vorteile der Elektrifizierung hinzuweisen — kurz
denjenigen antworten, die den Standpunkt ver
treten und zu welchen auch Fachleute gehören,
daß die jetzige Entwicklung zu ungunsten der
Eisenbahnen nicht mehr aufzuhalten sei, ja, sie
würden nach und nach aussterben. Deshalb sei
es unsinnig in Anbetracht des mehr oder we
niger großen, aber stetigen Defizits, mit dem
alle Staatsbahnen arbeiten, noch weitere rie
sige Kapitalien zu investieren, wenn die Elektri
fizierung einer Eisenbahnlinie annähernd 100
Millionen pro 1 km kostet. Sicherlich haben die
Eisenbahnen einen schweren Konkurrenzkampf
auszufechten und wenn sie in diesem Kampf
nicht untergehen wollen, müssen sie sich nach
den gebieterischen Forderungen richten, welche
die Modernisierung der Eisenbahnen beherr
schen: Einsparungen und technischer Fortschritt.
Nur kühne Lösungen, die auf die Zukunft ge
richtet sind, können diese beiden Hauptpunkte
des Arbeitsprogramms in Übereinstimmung brin
gen. Wenn nun bestimmte Modernisierungen
wohl die Investierung bedeutender Kapitalien
erfordern, aber entsprechende Einsparungen
mit sich bringen, dann umso besser.
Man braucht nicht Prophet zu sein, um zu
sagen, daß die Dampflokomotive ihre Glanzzeit
hinter sich hat, einige Zahlen beweisen es. Auf
dem elektrifizierten französischen Nordostbahn
netz werden 327 elektr. Lokomotiven, die un
gefähr 33 Milliarden kosten, 1000 Dampfloko
motiven ersetzen, deren Preis sich auf etwa 73
Milliarden beläuft. 1 to Kohle kostet 6 900.- Fr.
und wird ersetzt durch eine elektrische Energie
von 650 kWh, die jedoch nur 2 250.- Fr. kosten
Bei diesen Zahlen erübrigt es sich, auf an
dere Vorteile der elektrischen Lokomotive, wie
kein Anheizen, schnelleres Anziehen schwererer
Züge usw. näher einzugehen. Die Elektrifizierung
der Hauptstrecken der Eisenbahnen erlaubt fer
ner den größten Teil der erforderlichen Energie
aus nationalen Quellen zu schöpfen, sei es die
der Wasserläufe, sei es die der aschenhaltigen
Kohle, ohne Handelswert, die nur in den gro
ßen Feuerherden der thermischen Zentralen ver
brennbar ist. Und sollten in der Zukunft andere
Energieformen die klassischen Brennstoffe er
setzen und den Bau von Stauwerken überflüs
sig machen, dann nur, um elektrischen Strom
zu erzeugen. Infolgedessen riskieren Investie
rungen zur Elektrifizierung der Eisenbahn nicht
unrentabel zu werden, im Gegenteil, sie wer
den noch gewinnbringender, wenn in 10 oder
20 Jahren Atomzentralen billigeren Strom lie
fern werden.
In technischer Hinsicht ist die Elektrifizierung
der Strecke Valenciennes — Thionville bahn
brechend, weil sie die erste ist, die für das
Wechselstromsystem mit der Frequenz 50 Hertz
ausgebaut wurde, d. h. für industriellen Strom,
wie er vom Landesnetz und allen europäischen
Landesnetzen geliefert wird. Die ersten elek
trischen Bahnen wurden mit Gleichstrom mit
Spcnnung von 500 bis 800 V betrieben, weil
der Gleichstrom-Hauptschlußmotor aus mehre
ren Gründen einen geradezu idealen Antrieb
für Triebfahrzeuge darstellt. Die Kommutierung
des Hauptschlußmotors läßt sich leicht beherr
schen, nur die Regelung der aufgedrückten
Spannung macht gewisse Schwierigkeiten. Der
Gleichstrom hat aber den großen Nachteil, daß
Unlerwerk Liart