Full text: 1956 (0084)

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Von Werner Jakobi, Saarbrücken 
In einem kleinen Haus am Waldesrand, abseits 
von aller Welt, lebte einmal eine arme Köhler 
familie. Die Sorge ums tägliche Brot war oft Gast 
in der Hütte. Acht Kinder hatte nämlich der 
Köhler, die hatten immer Hunger und wollten 
gefüttert werden; Leckerbissen kamen da nicht auf 
den Tisch, sondern jeden Abend gab es Pell 
kartoffeln und Sauermilch, von der einzigen Kuh, 
die sie hatten. Trotzdem war es eine Lust, den 
Mahlzeiten zuzusehen. Zehn Löffel fuhren so eifrig 
in die große Schüssel, daß jeder gern mitgegessen 
hätte. Die Kinder gediehen an Leib und Seele, 
und die Augen der Eltern strahlten vor Stolz, 
wenn sie sie ansahen. 
An einem kalten Winterabend saß die Familie 
wieder um den großen Tisch versammelt. Draußen 
stürmte, schneite und regnete es. Gerade hatte 
die Mutter die dampfenden Kartoffeln aufgetragen, 
da klopfte es. Auf das „Herein!“ des Vaters trat 
ein vornehmer Herr und eine Dame in die nied 
rige Stube des Köhlers. 
„Grüß Gott“, sagte der Herr, „wir sind mit 
unserer Kutsche unterwegs und wollten heim in 
die Stadt. Die Wege sind aber so aufgeweicht, 
daß wir uns in der Dunkelheit nicht weiterwagen!“ 
„Bleiben Sie nur ruhig hier“, antwortete der 
Köhler, „wo Platz für zehn, ist auch Platz für 
zwölf. Und wenn Ihnen unsere Kost nicht zu 
gering ist, so sind Sie herzlich eingeladen!“ 
Von Herzen froh bedankten sich die Gäste. 
Nadidem der Köhler das Pferd abgeschirrt und 
zu der Kuh in den Stall geführt hatte, langten 
alle tapfer zu, und den beiden vornehmen Gästen 
schmeckte das einfache Gericht unter all den fröh 
lichen Gesichtem besser als daheim der feinste 
Braten. Die Fremden hatten ihre helle Freude 
an den sauberen, munteren Köhlerskindem, und 
es war ihnen doppelt leid, daß der liebe Gott 
ihnen kein Kind geschenkt hatte. Die größte 
Freude aber hatten sie an der kleinen Rosel, dem 
Nesthäkchen der Familie. Sie sah in ihren blon 
den Löckchen und den blitzblauen Augen so lieb 
aus, und das kleine Plappermäulchen plapperte 
so natürlich und ohne Scheu, daß die fremde 
Dame sie am liebsten gar nicht mehr von ihrem 
Schoß herunter gelassen hätte. Es war schon spät, 
als endlich alle schliefen und Ruhe eintrat im 
Köhlerhäuschen. 
Aber früh am Morgen waren sie alle schon auf 
den Beinen, denn jeder hatte Arbeit und Pflichten, 
auch die Kleinsten. Als alle mit den späten Abend 
gästen um die Morgensuppe versammelt waren, 
legte der Herr plötzlich seinen Löffel nieder und 
sprach: 
„Meine Frau und ich haben eine große Bitte. 
Wir sind sehr reich und haben keine Kinder. Geben 
Sie uns die kleine Rosel! Wir wollen sie halten 
wie unser eigenes Kind. Wir wollen alles für sie 
tun. Es wäre bestimmt zu ihrem Besten! Und 
wenn wir nicht mehr leben, soll sie unser ganzes 
Geld und all unsere Reichtümer besitzen!“ 
Rosels Mutter war sehr blaß geworden, und 
auch der Vater sah bestürzt drein. 
Erst wollten beide wie aus einem Munde rufen: 
„Nein, wir geben doch unser Kind nicht her!“ 
Dann aber sahen sie sich in die Augen, und 
beide dachten: „Wir dürfen jetzt nicht an uns 
denken, sondern nur an unser Kind. Es wird es 
ja in der Stadt bei den reichen Leuten viel besser 
haben als bei uns. 
Und nach einer Weile hob die Mutter den Kopf 
und meinte: 
„Wenn’s dem Vater und der kleinen Rosel 
selbst recht ist, so will ich auch nichts dagegen 
haben.“ 
Die dicken Tränen rannen ihr aber bei diesen 
Worten über die Backen. Der Vater hatte nun 
auch nichts mehr einzuwenden. Die kleine Rosel 
aber war Feuer und Flamme, denn sie hatte die 
neue Tante schon recht lieb gewonnen, und die 
Neugier auf die große Stadt ließ kein Abschieds 
weh aufkommen. 
„Jedes Jahr im Sommer komme ich zu Euch“, 
tröstete sie die weinende Mutter. 
„Das Kind braucht nichts mitzunehmen, wir 
kaufen ihm alles in der Stadt“, sagten Rosels 
Pflegeeltem. 
Nadidem sie für alles herzlidist gedankt hatten, 
fuhren sie mit ihrem Pflegetöchterchen davon. Als 
sie fort waren, schluchzte die Mutter laut auf, und 
der Vater war ernst und bleich. Mäuschenstill 
sammelten sich die Kinder hinter dem Ofen und 
flüsterten sich Märchendinge zu, die das Schwester 
chen nun erleben würde. 
Rosel ahnte nichts von dem Weh, das sein 
Scheiden im Elternhaus hinterließ. Sie blieb lustig 
und guter Dinge. Sie gewöhnte sidi bald an die 
Stadt mit ihren Häusermassen, ihrem Straßenlärm 
und ihren Schaufenstern.
	        
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