Full text: 1956 (0084)

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Am liebsten wäre es allen gewesen, wenn bald 
Weihnachten gekommen wäre, denn Abwechslung 
tat not. Manchmal, wenn die Schranktüre ge 
öffnet wurde, sagten die Glaskugeln aufgeregt: 
„Jetzt kommt das Christkind“, aber dann wurde 
die Türe wieder geschlossen, und alles war wie 
vorher. 
Dem Tannenzapfen fiel es am schwersten, und 
oft gedachte er seiner frohen Jugend. Adi, der 
Ast hatte recht, wenn er sagte, man solle den 
Tag nicht vor dem Abend loben. Man ist eben 
jung und dumm und will es nicht glauben. 
Einmal, als die Tür wiederum aufging, da wur 
den sie aber doch herausgeholt. „Jetzt wird es 
lustig!“ jubelten die Glaskugeln und all die an 
deren. Nur der Tannenzapfen schwieg still, denn 
er war sehr gespannt auf das, was nun folgen 
würde. 
Als der Deckel abgenommen war, da befanden 
sie sich in der guten Stube. Im Ofen summte ein 
gemütliches Feuer, an der Wand tickte die Uhr, 
und auf dem Tisch stand ein grüner Tannenbaum. 
Als diesen der Tannenzapfen gewahrte, hätte er 
am liebsten geweint vor Freude, aber er traute 
sich nicht, weil er sich vor den vornehmen Glas 
kugeln keine Blöße geben wollte. Deren einge 
bildete Steifheit hatte er diesen nämlich abge 
lauscht, obschon er wußte, daß er früher einmal 
zu den Vornehmeren gehörte. So ist es, wenn man 
vom Lande kommt. Jetzt glaubte er sich als ein 
Städter und wollte als solcher dem Tannenbaum 
imponieren. Es wäre ihm unangenehm gewesen, 
wenn sein Landsmann erfahren hätte, wo seine 
Wiege gestanden. Darum reute es ihn jetzt, daß 
er den Glaskugeln vom Walde gesprochen hatte, 
und er hoffte, sie hätten es vergessen. Ja, man 
soll eben nie zu vorlaut plaudern, weil man nie 
weiß, ob man sich damit nicht später einmal 
schadet. Als er aber den Baum klagen hörte, wie 
es im Walde so schön gewesen sei bei den Vö 
geln, Hasen und Wieseln, wie der Schnee so 
herrlich in der Sonne glitzerte und die Bächlein 
unter dem Eise murmelten, da konnte er sich 
doch nicht mehr halten, und die Tränen rollten 
an ihm herunter. Es waren ganz dicke Tränen, 
so daß der Vater, der den Zapfen in die Hand 
genommen, davon ganz klebrige Finger bekam. 
Nun hing der Vater all den Schmuck aus der 
Schachtel an die Zweige, und die Wachslichter 
wurden angeklammert, so daß es so recht weih 
nachtete in der guten Stube. Und dann ging der 
Vater hinaus. 
Der Tannenbaum war traurig, wenngleich ihm 
so viel Tand umgehängt wurde, und er seufzte: 
„Wie heiß ist es hier drin, man glaubt zu ver 
schmachten. Wenn ich nur ein wenig Luft hätte. 
Ach, wie sind doch die armen Menschen zu be 
dauern, welche so eingeengt in ihren Mauern 
leben müssen! Du armer Tannenzapfen“, wandte 
er sich an diesen, „du leidest auch bestimmt in 
der Fremde. Mußtest du die Heimat schon lange 
verlassen?“ 
„Nein!“ Jetzt hat er midi doch erkannt, dachte 
der Tannenzapfen und war sehr geniert. Er ver 
suchte jedodi das Gesicht zu wahren, indem er 
antwortete: „Ja, ja, schon lange, schon recht lange 
sogar, und seither habe idi mich ganz gut hier 
eingelebt. Wir sind eine heitere Gesellschaft und 
verstehen uns recht gut. Manchmal geht es hier 
sehr witzig zu, dank den geistreidien Glaskugeln. 
Ach, du wirst schon sehen, daß es dir gefallen 
wird. Mode vergeht und Natur besteht, mach" 
dir nidits draus, sagte der ...“, schnell biß sich 
aber der Tannenzapfen auf die Zunge und schwieg. 
Hochmütig hatten die Glaskugeln seiner Rede 
gelauscht. Weil er sie aber gelobt hatte, gingen 
sie aus ihrer Starrheit heraus und sagten: „So ist 
es“, obgleich sie den Tannenzapfen für einen 
Tölpel hielten. Dann schäkerten sie und taten 
lustig, um zu zeigen, wie gescheit sie seien. 
Der Tannenbaum aber seufzte nur und schüt 
telte das Haupt, so daß einige Nadeln auf den 
Tisch herabfielen. Dem Zapfen, der es gewahrte, 
brach dabei das Herz. Am liebsten hätte er ihm 
zugeschrien, daß er ja genau so denke wie er, 
aber die Vornehmheit schnürte ihm die Kehle zu. 
Die Uhr an der Wand tickte immerfort wie 
eine alte Großmutter, wenn sie hinter dem Ofen 
strickt, und genau wie diese sagte sie hin und 
wieder: „Aber, aber, ihr dummen Kinder, wie 
könnt ihr nur so die kostbare Zeit mit leerem 
Geschwätz vertrödeln.“ Und dann tickte sie 
weiter, die Uhr. 
Zuletzt wurde der Tannenzapfen auf sie auf 
merksam. Es dauerte immer eine Weile, bis man 
in einer Stube die Uhr sprechen hört. Gewöhnlich 
bemerkt man sie erst, wenn alles schweigt. Das 
war jetzt gerade der Fall, darum lauschte nun 
plötzlich der Tannenzapfen auf die Uhr und be 
trachtete sie lange. Da fiel sein Blick auf die 
drei Tannenzapfen, die unter ihr hingen, und, 
glücklich, so unerwartet Kameraden anzutreffen, 
wollte er sie schon froh begrüßen, da schlug die 
Uhr vier Viertel, und einer der Tannenzapfen 
schnurrte hinab, daß man glauben mußte, er 
falle zu Boden. Gleichzeitig kam ein Vogel oben 
aus der Türe und musizierte: „Kuckuck! Kuckuck!“ 
Darauf blieb der Tannenzapfen stehen. Gleich 
bewegte sich nun aber ein zweiter hinunter: ein 
anderer Vogel trat heraus, und jedesmal, wenn 
die Stundenglocke ertönte, verbeugte er sich zier 
lich, indem er „Kuckuck!“ dazu rief. Auch hob 
er stets dabei die Flügel, und das tat er viele 
Male, denn es war gerade sechs Uhr. Dann blieb 
auch dieser Zapfen stehen, der Vogel machte die 
Tür zu und nun war alles wieder still. 
Eigentlich hätte jetzt der dritte Zapfen auch 
fallen müssen, doch muckste er sich nicht. Wahr 
scheinlich hatte er das nicht notwendig. Vielleicht 
war er auch vornehmer als die anderen. Immer 
hin ist das nicht gerecht, dachte der wirkliche 
Tannenzapfen, wenn es ans Fallen geht, dann 
hätten alle zu fallen, und er erinnerte sich dabei 
an seinen eigenen Fall.
	        
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