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Von W. Jakobi, Saarbrücken
Früher, als Eure Großmutter noch nicht lebte
und Eure Urgroßmutter auch noch nicht, kannte
man weder Strümpfe noch Schuhe. Die Menschen
liefen barfuß herum, und die Zehen an den Fü
ßen, die großen und die kleinen, freuten sich
des Lebens und ihrer Freiheit. Aber dann wur
den die Menschen anspruchsvoller und vor
nehmer. Sie wollten nicht mehr mit nackten
Füßen gehen, und deshalb erfanden sie Strümpfe
und Schuhe. Nun waren die Zehen immer einge
sperrt, und bald wußten sie nichts mehr von der
schönen Welt und wie es in ihr zugeht. —
Audi die Zehen, die zu dem Fuß eines kleinen
Jungen gehörten, lebten still und zurückgezogen
Tag für Tag in ihrem Strumpf- und Schuhkäfig.
Sie waren auch ganz zufrieden. Sie waren schön
sauber, und es tat ihnen nichts weh. Nur, wenn
die Mutter des Jungen mit der Schere kam,
wurde ihnen ein wenig bange. Aber schnell und
geschickt stutzte ihnen Frau „Schnipp-Schnapp“
den Kragen, und dann war alles wieder beim
Alten. Ab und zu kamen sie auch an die frische
Luft und zwar dann, wenn der kleine Junge
abends seine Schuhe und Strümpfe auszog.
Oder, wenn er nachts einmal sein dickes Bein
dien unter der Bettdecke hervorstreckte. Da
konnten die Zehen sich nicht satt sehen an dien
schönen Möbeln, der Tapete und den Gardinen
des Schlafzimmers: „Oh, wie ist die Welt so
sdiön und groß!“ sagten sie untereinander, —
und wußten nicht, in welch großem Irrtum sie
sich befanden.
Eines abends nun wollte Knollerich, die große
Zehe des kleinen Knaben gerade einschlafen. Da
wurde er, weil es dem kleinen Jungen zu warm
wurde, über den Bettrand kerzengerade in die
Luft gestreckt. Im gleichen Augenblick merkte
er, daß sich jemand auf ihn niederließ und ihn
so kitzelte, daß er erschreckt die Augen öffnete.
„Guten Tag!“ sagte der Jemand, „ich bin Frau
Fliege, ich habe mich etwas verspätet und bin
nicht mehr frühzeitig aus diesem Zimmer her
ausgekommen, aber morgen früh gleich, wenn
das Fenster wieder geöffnet wird, fliege ich hin
aus in die herrliche Welt.“ — „Welche Welt?“
fragte Knollerich, „Gibt es denn noch eine als
diese hier?“ — „Welch dumme Frage“, antwor
tete Frau Fliege, „draußen hinter dem Fenster
fängt sie ja erst an!“ Und dann erzählte die
Fliege der großen Zehe Knollerich von all den
Herrlichkeiten, die es draußen zu sehen gab. Da
packte Knollerich eine große Sehnsucht, und im
Einschlafen noch hatte er immer nur den einen
Gedanken: „Ich muß hinaus! Ich will die Welt
sehen und kennen lernen!“ — Von dieser Zeit
an hatte eT keine Ruhe, mehr in seinem Strumpf.
Er ruckte und druckte, er schob und stieß Tag
für Tag, bis er sich endlich durch den Strumpf
gestoßen hatte. Weil es aber immer noch eng
und dunkel um ihn war, ruckte und druckte,
schob und stieß er unermüdlich weiter. Da end
lich! batte er es geschafft! Sogar der Schuh hatte
ein Loch. Mit erstaunten Augen sah Knollerich
in die Welt hinaus. Ach, was gab es da nicht
alles zu sehen!
Den blauen Himmel, an dem hoch die Sonne
stand, die hohen, grünen Bäume, die bunten
Blumen, der klare Bach, die vielen Häuser, die
vielen, vielen Kinder und vieles, vieles mehr! Gar
nicht sattsehen konnte sich Knollerich an all den
vielen Herrlichkeiten. Da plötzlich aber wurde
er jäh aus seinem Staunen herausgerissen. Ein
Schmerz durchzuckte ihn, dann wurde es ihm
rot vor den Augen und er fiel in Ohnmacht. Eier
kleine Junge war in einen Haufen Glasscheiben
getreten!
Als Knollerich wieder aus seiner Ohnmacht er
wachte, hatte er einen dicken weißen Verband
auf dem Kopf. Er saß wieder in seinem Strumpf
gefängnis, denn das Loch, das er mühsam ge
bahrt hatte, war gestopft. Obendrein aber hatte
man ihn noch in einen dicken Filzpantoffel ge
steckt. Dort mußte er so lange bleiben, bis der
Schuster seinen alten Schuhkäfig wieder geflickt
hatte. — Aus war es nun mit der Freiheit. Aber
sein Kopf tat ihm wenigstens nicht mehr so
schrecklich weh! Wenn er nur endlich die lästige
warme, weiße Mütze los gewesen wäre! Seine
kleinen Geschwister stießen ihn immer an und
wollten von ihm wissen, wie es draußen in
der Welt gewesen waT. Aber Knollerich konnte
nicht sprechen. Man hatte ihm ja den ganzen
Kopf verbunden. So langweilte er sich den gan
zen Tag, wie er sich noch nie gelangweilt hatte.
Was sollte er tun? — Er machte einfach die Au
gen zu — und schlief ein. Ein paar Tage später
aber, wurde er von der engen weißen Mütze be
freit und sein Kopf war wieder ganz geheilt.