Full text: 1956 (0084)

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Von W. Jakobi, Saarbrücken 
Früher, als Eure Großmutter noch nicht lebte 
und Eure Urgroßmutter auch noch nicht, kannte 
man weder Strümpfe noch Schuhe. Die Menschen 
liefen barfuß herum, und die Zehen an den Fü 
ßen, die großen und die kleinen, freuten sich 
des Lebens und ihrer Freiheit. Aber dann wur 
den die Menschen anspruchsvoller und vor 
nehmer. Sie wollten nicht mehr mit nackten 
Füßen gehen, und deshalb erfanden sie Strümpfe 
und Schuhe. Nun waren die Zehen immer einge 
sperrt, und bald wußten sie nichts mehr von der 
schönen Welt und wie es in ihr zugeht. — 
Audi die Zehen, die zu dem Fuß eines kleinen 
Jungen gehörten, lebten still und zurückgezogen 
Tag für Tag in ihrem Strumpf- und Schuhkäfig. 
Sie waren auch ganz zufrieden. Sie waren schön 
sauber, und es tat ihnen nichts weh. Nur, wenn 
die Mutter des Jungen mit der Schere kam, 
wurde ihnen ein wenig bange. Aber schnell und 
geschickt stutzte ihnen Frau „Schnipp-Schnapp“ 
den Kragen, und dann war alles wieder beim 
Alten. Ab und zu kamen sie auch an die frische 
Luft und zwar dann, wenn der kleine Junge 
abends seine Schuhe und Strümpfe auszog. 
Oder, wenn er nachts einmal sein dickes Bein 
dien unter der Bettdecke hervorstreckte. Da 
konnten die Zehen sich nicht satt sehen an dien 
schönen Möbeln, der Tapete und den Gardinen 
des Schlafzimmers: „Oh, wie ist die Welt so 
sdiön und groß!“ sagten sie untereinander, — 
und wußten nicht, in welch großem Irrtum sie 
sich befanden. 
Eines abends nun wollte Knollerich, die große 
Zehe des kleinen Knaben gerade einschlafen. Da 
wurde er, weil es dem kleinen Jungen zu warm 
wurde, über den Bettrand kerzengerade in die 
Luft gestreckt. Im gleichen Augenblick merkte 
er, daß sich jemand auf ihn niederließ und ihn 
so kitzelte, daß er erschreckt die Augen öffnete. 
„Guten Tag!“ sagte der Jemand, „ich bin Frau 
Fliege, ich habe mich etwas verspätet und bin 
nicht mehr frühzeitig aus diesem Zimmer her 
ausgekommen, aber morgen früh gleich, wenn 
das Fenster wieder geöffnet wird, fliege ich hin 
aus in die herrliche Welt.“ — „Welche Welt?“ 
fragte Knollerich, „Gibt es denn noch eine als 
diese hier?“ — „Welch dumme Frage“, antwor 
tete Frau Fliege, „draußen hinter dem Fenster 
fängt sie ja erst an!“ Und dann erzählte die 
Fliege der großen Zehe Knollerich von all den 
Herrlichkeiten, die es draußen zu sehen gab. Da 
packte Knollerich eine große Sehnsucht, und im 
Einschlafen noch hatte er immer nur den einen 
Gedanken: „Ich muß hinaus! Ich will die Welt 
sehen und kennen lernen!“ — Von dieser Zeit 
an hatte eT keine Ruhe, mehr in seinem Strumpf. 
Er ruckte und druckte, er schob und stieß Tag 
für Tag, bis er sich endlich durch den Strumpf 
gestoßen hatte. Weil es aber immer noch eng 
und dunkel um ihn war, ruckte und druckte, 
schob und stieß er unermüdlich weiter. Da end 
lich! batte er es geschafft! Sogar der Schuh hatte 
ein Loch. Mit erstaunten Augen sah Knollerich 
in die Welt hinaus. Ach, was gab es da nicht 
alles zu sehen! 
Den blauen Himmel, an dem hoch die Sonne 
stand, die hohen, grünen Bäume, die bunten 
Blumen, der klare Bach, die vielen Häuser, die 
vielen, vielen Kinder und vieles, vieles mehr! Gar 
nicht sattsehen konnte sich Knollerich an all den 
vielen Herrlichkeiten. Da plötzlich aber wurde 
er jäh aus seinem Staunen herausgerissen. Ein 
Schmerz durchzuckte ihn, dann wurde es ihm 
rot vor den Augen und er fiel in Ohnmacht. Eier 
kleine Junge war in einen Haufen Glasscheiben 
getreten! 
Als Knollerich wieder aus seiner Ohnmacht er 
wachte, hatte er einen dicken weißen Verband 
auf dem Kopf. Er saß wieder in seinem Strumpf 
gefängnis, denn das Loch, das er mühsam ge 
bahrt hatte, war gestopft. Obendrein aber hatte 
man ihn noch in einen dicken Filzpantoffel ge 
steckt. Dort mußte er so lange bleiben, bis der 
Schuster seinen alten Schuhkäfig wieder geflickt 
hatte. — Aus war es nun mit der Freiheit. Aber 
sein Kopf tat ihm wenigstens nicht mehr so 
schrecklich weh! Wenn er nur endlich die lästige 
warme, weiße Mütze los gewesen wäre! Seine 
kleinen Geschwister stießen ihn immer an und 
wollten von ihm wissen, wie es draußen in 
der Welt gewesen waT. Aber Knollerich konnte 
nicht sprechen. Man hatte ihm ja den ganzen 
Kopf verbunden. So langweilte er sich den gan 
zen Tag, wie er sich noch nie gelangweilt hatte. 
Was sollte er tun? — Er machte einfach die Au 
gen zu — und schlief ein. Ein paar Tage später 
aber, wurde er von der engen weißen Mütze be 
freit und sein Kopf war wieder ganz geheilt.
	        
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