Full text: 1955 (0083)

Das Jfoblenmänncbcn 
von Elisabeth Kirch 
Durch den finstern Wald schritt ein Knappe. 
Seine Glieder schmerzten vor Müdigkeit, und sein 
Kopf war schwer von seltsamen Gedanken. Denn 
heute war ihm das Grubenmännchen erschienen, 
der gute Geist, der schon viele hundert Jahre 
zum Wohle der Knappen das Reich der Kohlen 
beherrscht. 
Später als sonst kam der Knappe nach Hause. 
Seine Frau wollte schimpfen, als sie aber ihres 
Mannes bleiches Gesicht sah, blieben ihr die 
Worte im Munde stecken. „Was ist geschehen?“ 
fragte sie nur und stellte die magere Brotsuppe 
auf den Tisch. 
„Viel ist geschehen! Ich war heute zum letzten 
Male in der Grube. Sie haben mich fortgejagt, 
es fehle an Arbeit.“ 
Die Frau konnte es nicht fassen, daß ihr Mann 
ohne Verdienst war und meinte: „Der Winter 
steht vor der Tür, die Kohlen gehen zu Ende, 
und das Häuflein Kartoffeln wird immer kleiner. 
Und wie sollen wir das Gas bezahlen, wenn du 
keinen Verdienst hast?“ 
„Schweig, Frau!“ rief der Bergmann. „Du 
machst mir das Herz schwer.“ 
„Aber die armen Kinder!“ schluchzte die Frau. 
„Sie sind bleich und schmal. Sollen die unschuldi 
gen Seelen Not leiden?“ 
„Quäle midi nicht, Frau“, sagte der Knappe. 
„Du warst dodi sonst tapfer. Schau, wir sind nicht 
verloren. Das Kohlenmännchen hat Hilfe verspro 
chen. Es ist mir im Stollen begegnet. Zwei von 
unschuldigem Blut könnten uns retten, hat es ge 
sagt, wenn sie den Weg zum Berggeistlein fän 
den.“ 
Die Augen der Frau wurden größer und grö 
ßer. „Zwei von unschuldigem Blut, hat das Gru- 
benmänndien gesagt. Das können nur Kinder sein, 
denn was gibt es, das unschuldiger wäre als das 
Herz eines Kindes.“ 
So sagte die Frau, und dann gingen sie zu 
Bett, der Knappe und sein Weib, und bald schlie 
fen sie tief und fest. 
Drinnen aber in der kleinen Kammer, wo die 
Betten der Kinder standen, wachte einer, und das 
war Heini. Er hatte alles gehört, was die Eltern 
gesagt hatten, am Abend. Und nun lag Heini mit 
offenen Augen und lauschenden Ohren im Bett 
und wartete auf den ersten Hahnenschrei. Und als 
der Hahn zum erstenmal krähte, stand Heini auf 
und weckte auch Leni. „Steh auf, Lenchen, wir 
müssen in den Wald gehen!“ Aber Leni wollte 
nicht aufstehen, und da erzählte Heini, was sich 
begeben hatte. 
„Wenn es sein muß, gehe ich mit. Aber ich 
fürchte mich“, schluchzte das kleine Lenchen und 
zitterte wie Espenlaub. Aber Heini schalt die 
Schwester und sagte, daß sie den Eltern helfen 
müßten, sonst wären sie alle verloren. Und da 
stand Leni auf. Husch - husch - schlüpften die 
Kinder in ihre Kleider, in Strümpfe und Schuhe, 
nahmen die Laterne vom Wandbrett und schlichen 
sich aus dem Hause. 
Draußen war es noch dunkel und kalter Nebel 
wogte wie ein graues Meer über Wiese und 
Wald. Im Wald war es stockdunkel, und gruselig 
war es darin. Die Bäume wuchsen wie Riesen 
aus dem Nebel hervor. Die Sträucher standen am 
Wege wie böse Gespenster und reckten drohend 
die dürren Arme, und regte sich ein Zweiglein im 
Wind, so zuckte Leni zusammen und faßte Heinis 
Hand fester. Heini schritt tapfer voran wie ein 
richtiger Held und fürchtete sich auch nicht ein 
bißchen. Endlich wurde der Wald lichter, und 
nicht lange, da ragte aus dem Nebel ein Turm, 
und viele Lichtlein blinkten den Kindern ent 
gegen. 
„Hier muß die Zeche sein“, sagte Heini, dort 
steht der Turm mit dem Förderkorb, darin die 
Knappen in die Grube fahren, und hier muß das 
Kohlenmännchen zu finden sein. Wir wollen es 
rufen. 
„Kohlenmännchen! Kohlenmännchen, wo bist 
du?“ rief Heini, aber es kam keine Antwort. 
„Kohlenmännchen, wo bist du“, rief auch Leni. 
„Hier bin ich“, rief da eine alte, dünne, zittrige 
Stimme. „Wer ruft mich?“ — „Wir, Lenchen und 
Heini, zwei von unschuldigem Blut.“ 
„Ach, ihr seid es, Lenchen und Heini!“ Vor den 
Kindern stand wie aus der Erde gewachsen ein 
kohlrabenschwarzes, steinaltes Männlein. Seine 
Augen funkelten wie Diamanten aus dem runze 
ligen Gesicht, und in seinem grauweißen Bart 
hingen vieltausend schwarze, glänzende Perlen. 
„Was wünscht ihr vom Kohlenmännchen?“ 
fragte das Geistlein. „Ach, hilf uns doch, liebes 
Männlein“, bat Leni. „Unser Vater hat seine Ar 
beit verloren.“ 
Da sagte das Männlein: „Ich kenne euren Va 
ter, und weil ihr so gute Kinder seid, und den 
Weg nicht gescheut habt durch Nebel und Nacht, 
will ich euch helfen. Kommt in mein Reich.“ 
Das Männlein rührte eine silberne Glocke, da 
kam aus der Tiefe ein Fahrstuhl. Die drei stiegen 
ein und — hui — ging es in sausender Fahrt in 
die Tiefe. Als sie eine Weile gefahren waren, 
zog das Kohlenmännchen an einer silbernen Klin 
gel, da stoppte der Kasten und das Kohlenmänn 
chen und die zwei Kinder waren im tiefuntersten 
Stollen. Im Stollen war es stockdunkel und sie 
dendheiß war es darin. Das Männlein reckte die
	        
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