160
klopfenden Herzens zu den Freunden zurück und
hörte mit Grausen, daß er sein Spiel unterbrach
und mir etwas nachrief. Atemlos betrat ich die
Höhle und keuchte:
„Draußen sitzt . . . der Rattenfänger von
Hameln!“
Oskar fuhr sich vielsagend an die Stirne:
„Er ist verrückt!“ stellte er lakonisch fest und
griff nach dem letzten seiner Äpfel. „Wie sollte
der Rattenfänger von Hameln hierher kommen?“
„Ich — ich mache das doppelte Kreuz und
blicke zum Himmel, ohne zu lachen!“ Das war
bei uns die Form eines rechtsgültigen Schwures,
den ich auch sofort leistete, indem ich Zeige- und
Ringfinger der rechten Hand, ein Kreuz bildend,
auf dieselben Finger der linken legte und mit
todernster Miene zum Himmel, d. h. zur Höhlen-
decke, aufblickte.
„Er hat geschworen!“ sagte Herbert dumpf,
„also ist es wahr. Wo ist er?“
„Ihr könnt ihn von der Höhle aus sehen!“ Ich
zitterte vor Erregung und die beiden begaben
sich zum Ausgang unseres Wigwams, um bald
darauf schreckensbleich zurückzukehren. Schwei
gend saßen wir eine Weile nebeneinander, und
in den Augen Herberts blinkten plötzlich Tränen,
während ich vergeblidi versuchte, ein tapferes
Gesicht zu zeigen.
„Wenn wir die Höhle verlassen, nimmt er uns
mit“, sagte Oskar in kläglichem Ton.
„Wir müssen ihn überrumpeln“, versuchte ich
forsch zu sein, aber ich fürchte, es klang nicht
minder jammervoll, als die Worte Oskars. Die
beiden sahen midi entsetzt an, und ich fühlte
mich verpflichtet, „elende Feiglinge“ vor mich
hinzumurmeln.
Wieder herrschte Schweigen.
„Wenn man ihm vielleidit sagen würde, wo —
wo es Ratten gibt?“ meldete Oskar sich endlich
zaghaft und fuhr sidi mit dem Zipfel seiner
Spielschürze über die Augen.
Das war eine Idee. Vielleicht waren ihm Ratten
lieber als Kinder und er ließ uns laufen. Neue
Hoffnung schöpfend, berieten wir eifrig den Vor-
sdilag. — Wer aber sollte es ihm sagen?
„Es wird gelost!“ bestimmte Herbert.
Wir losten also. Natürlich zog ich das kürzeste
Holz aus den Händen Oskars und wurde somit
beauftragt, als Unterhändler vor den berühmten
Rattenfänger von Hameln hinzutreten. Nach
einigen guten Ratschlägen machte ich midi auf
den Weg, zitternd, dem guten Herrgott meine
Kinderseele empfehlend. Endlich stand ich vor
dem Mann, der die Flöte vom Munde nahm und
mich mit seinem stechenden Blick ansah.
„Herr Rattenfänger “, stotterte ich, „Herr
Rattenfänger — wenn du uns nadi Hause gehen
läßt, dann sage ich dir, wo es viele Ratten gibt.
Unten auf der alten Grube nämlich, — Herr
Rattenfänger, da kannst du Ratten fangen
und uns — — und — —!“
Idi hatte diese Worte hastig hervorgestoßen,
während der seltsame Mann midi zunächst ver
wundert anhörte, dann aber in ein lautes Ladien
ausbrach.
„Idi braudie keine Ratten", sagte er endlich
mit heller Stimme und einer eigenartigen Be
tonung. „Du und die beiden dort, —“ er zeigte
zu der Höhle hinüber, — „ihr seid mir genug!
Kommt her, ihr zwei!!“
Nun sdiien alles verloren. Oskar und Herbert
hatten sidi vor die Höhle gewagt und kamen
jetzt sdiludizend und mit sdilottemden Knien
näher. Der Rattenfänger aber versicherte uns
hastig, da audi idi jetzt in das Schluchzen ein-
stimmte, daß er uns bestimmt nichts Böses tun
würde. Wir mußten uns zu seinen Füßen nieder
lassen, und er begann wieder sein Flötenspiel. —
Bald vergaßen wir unsere Furcht, die Tränen
versiegten, und wie gebannt lausditen wir den
lieblichen Melodien, die der Rattenfänger uns
vorspielte. Es modite wohl ein malenswertes Bild
sein, der Mann in seinen bunten Kleidern, flöte
spielend auf einem moosüberwachsenen Stein
sitzend, während wir drei Bürsdichen vor ihm
auf dem grünen Teppidi der Liditung lagen, den
Kopf in die Hände gestützt.
Plötzlich aber wurde das Idyll unsanft gestört.
Der Rattenfänger ließ brüsk die Flöte sinken,
murmelte etwas Unverständliches und schritt ohne
ein weiteres Wort davon. Da bemerkten wir auch
schon den alten Förster vom Pfaffenkopf, der sich
uns näherte, laut über die Zigeuner schimpfend,
die sich in seinem Wald herumtrieben. Als wir
ihn eines Besseren belehren wollten und ihm
sagten, daß es kein Zigeuner, sondern der Ratten
fänger von Hameln war, wurde er wütend und
wir suchten schleunigst das Weite.
Oskar wurde ein Opfer des letzten, grausamen
Krieges. Herbert aber habe ich kürzlich getroffen.
Seltsam, wenn wir auch bei der Erinnerung an
unsere Jugendstreiche herzhaft lachten, als wir
auf unseren Wald und die Begegnung mit dem
Rattenfänger von Hameln zu sprechen kamen,
blieben wir eigenartig ernst dabei. Es schien,
als fürchte jeder, der andere könne ein Wort
sagen, das etwas in uns zerstört hätte, was wir
schon seit jener glücklichen Kindheit in uns trugen.