Full text: 1955 (0083)

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Der Rattenfänger 
Von M. Helfgen, Quierschied 
plötzlich gezwungen, seufzend aufzustehen und 
angeblich die Umgegend nach feindlichen 
Kriegern zu durchforschen. In Wirklichkeit 
aber verlangte mein zutiefst beleidigter Magen 
dringend nach Gelegenheit zur Erholung. — Noch 
war ich mit dieser Kur beschäftigt, als plötzlich 
ein Geräusch an mein Ohr drang, das idr noch 
nie in unserem Wald vernommen hatte. Lieb 
liche, schmeichelnde Töne waren es, die sich zu 
einer eigenartigen Melodie formten. Ängstlich 
blickte ich in die Richtung, aus der die Töne 
kamen — und mußte dann allen Mut meiner 
sieben Jahre zusammenraffen, um nicht laut 
schreiend zu den Freunden zurückzulaufen. Was 
ich erblickte, erregte mein kindliches Gemüt auf 
das heftigste. Vor mir, inmitten einer sonnen 
beschienenen Lichtung, saß ein Mann auf einem 
Stein. Er trug einen braunen glockenförmigen 
Hut, der aber die pechschwarzen, ungeordneten 
Haare nicht verbergen konnte. Sein Wams, wie 
die Hose, waren aus giftgrünem Stoff, und um 
den Hals trug er einen hellroten Schal. Die 
schwarzen Augen des seltsamen Menschen standen 
keinen Augenblick still. Dieser Mann war es, der 
einer Flöte jene schmeichelnden Töne entlockte, 
die mich auf ihn aufmerksam werden ließen. 
Bei mir stand es fest — das konnte nur der 
Rattenfänger von Hameln sein. Er mußte midi 
gesehen haben, denn ich stand nur einige Schritte 
von ihm entfernt, dessen ungeaditet aber lief idi 
Wohl dem, dem ein gütiges Schicksal es er 
laubt hat, seine Kindheit unter dem mächtigen 
Laubdadie eines Waldes zu verbringen. Er hatte 
die Gnade, ein Stüde Paradies zu erleben, denn 
was könnte ein Kind wohl stärker in seinen Bann 
schlagen, als der Wald mit all seinen offenen 
und versteckten Schönheiten? 
Oskar, Herbert und ich waren mit unseren 
sechs und sieben Lebensjahren die ungekrönten 
Herrsdier über den Riesen Wald, der sich rings 
um Von der Heydt ausbreitet. Wir vertrauten 
ihm unsere Kindheit an, und er hat sie wohl 
zum schönsten Erlebnis unseres ganzen Lebens 
gemacht. Alles, was sich in ihm verbarg, zeigte 
er uns freundlich, und wenn wir nicht als „wilde 
Indianer" unter seinen Bäumen umhertobten oder 
„Räuber und Gendarm“ spielten, dann konnten 
wir stundenlang auf dem weichen, duftenden 
Waldboden liegen und das Treiben ringsum beob 
achten. Begegneten uns doch fast alle Tiere, 
die uns aus dem Märchenbuch, das zu Hause 
lag, bekannt waren — das schmucke Reh, der 
listige Reinecke, der garstige Frosch, ha, sogar 
der böse Isegrim war einmal durch den Wald ge 
laufen, mit roten Augen und weit heraushängen 
der Zunge. Schreiend rannten wir nach Hause, 
um uns von den Erwachsenen auslachen zu lassen, 
die erklärten, es sei ein Hund gewesen, der Hund 
des Försters vielleicht. Wir aber wußten es 
besser. Sahen wir doch auch täglich den Igel, der 
vor hundert Jahren mit 
dem Hasen einmal um die 
Wette lief. Meister Lampe 
weilte oft in seiner Nähe, 
sicher wollte er den Wett 
lauf wiederholen. Einmal 
aber war auch der Ratten 
fänger von Hameln im 
Wald von Von der Heydt, 
und er lockte uns mit sei 
ner Flöte. Und das kam so: 
An einem sonnigen 
Herbsttag hatten wir uns 
einmal wieder in „blut 
gierige Indianer“ verwan 
delt und saßen, „erbeu 
tetes“ Obst essend und die 
Friedenspfeife rauchend, in 
unserem „Wigwam“, einer 
natürlichen Höhle. Nach 
einigen kräftigen Zügen 
aus besagter Pfeife, die in 
Ermangelung von Tabak 
mit welkem Laub ge 
stopft war, sah ich midi
	        
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