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Der Rattenfänger
Von M. Helfgen, Quierschied
plötzlich gezwungen, seufzend aufzustehen und
angeblich die Umgegend nach feindlichen
Kriegern zu durchforschen. In Wirklichkeit
aber verlangte mein zutiefst beleidigter Magen
dringend nach Gelegenheit zur Erholung. — Noch
war ich mit dieser Kur beschäftigt, als plötzlich
ein Geräusch an mein Ohr drang, das idr noch
nie in unserem Wald vernommen hatte. Lieb
liche, schmeichelnde Töne waren es, die sich zu
einer eigenartigen Melodie formten. Ängstlich
blickte ich in die Richtung, aus der die Töne
kamen — und mußte dann allen Mut meiner
sieben Jahre zusammenraffen, um nicht laut
schreiend zu den Freunden zurückzulaufen. Was
ich erblickte, erregte mein kindliches Gemüt auf
das heftigste. Vor mir, inmitten einer sonnen
beschienenen Lichtung, saß ein Mann auf einem
Stein. Er trug einen braunen glockenförmigen
Hut, der aber die pechschwarzen, ungeordneten
Haare nicht verbergen konnte. Sein Wams, wie
die Hose, waren aus giftgrünem Stoff, und um
den Hals trug er einen hellroten Schal. Die
schwarzen Augen des seltsamen Menschen standen
keinen Augenblick still. Dieser Mann war es, der
einer Flöte jene schmeichelnden Töne entlockte,
die mich auf ihn aufmerksam werden ließen.
Bei mir stand es fest — das konnte nur der
Rattenfänger von Hameln sein. Er mußte midi
gesehen haben, denn ich stand nur einige Schritte
von ihm entfernt, dessen ungeaditet aber lief idi
Wohl dem, dem ein gütiges Schicksal es er
laubt hat, seine Kindheit unter dem mächtigen
Laubdadie eines Waldes zu verbringen. Er hatte
die Gnade, ein Stüde Paradies zu erleben, denn
was könnte ein Kind wohl stärker in seinen Bann
schlagen, als der Wald mit all seinen offenen
und versteckten Schönheiten?
Oskar, Herbert und ich waren mit unseren
sechs und sieben Lebensjahren die ungekrönten
Herrsdier über den Riesen Wald, der sich rings
um Von der Heydt ausbreitet. Wir vertrauten
ihm unsere Kindheit an, und er hat sie wohl
zum schönsten Erlebnis unseres ganzen Lebens
gemacht. Alles, was sich in ihm verbarg, zeigte
er uns freundlich, und wenn wir nicht als „wilde
Indianer" unter seinen Bäumen umhertobten oder
„Räuber und Gendarm“ spielten, dann konnten
wir stundenlang auf dem weichen, duftenden
Waldboden liegen und das Treiben ringsum beob
achten. Begegneten uns doch fast alle Tiere,
die uns aus dem Märchenbuch, das zu Hause
lag, bekannt waren — das schmucke Reh, der
listige Reinecke, der garstige Frosch, ha, sogar
der böse Isegrim war einmal durch den Wald ge
laufen, mit roten Augen und weit heraushängen
der Zunge. Schreiend rannten wir nach Hause,
um uns von den Erwachsenen auslachen zu lassen,
die erklärten, es sei ein Hund gewesen, der Hund
des Försters vielleicht. Wir aber wußten es
besser. Sahen wir doch auch täglich den Igel, der
vor hundert Jahren mit
dem Hasen einmal um die
Wette lief. Meister Lampe
weilte oft in seiner Nähe,
sicher wollte er den Wett
lauf wiederholen. Einmal
aber war auch der Ratten
fänger von Hameln im
Wald von Von der Heydt,
und er lockte uns mit sei
ner Flöte. Und das kam so:
An einem sonnigen
Herbsttag hatten wir uns
einmal wieder in „blut
gierige Indianer“ verwan
delt und saßen, „erbeu
tetes“ Obst essend und die
Friedenspfeife rauchend, in
unserem „Wigwam“, einer
natürlichen Höhle. Nach
einigen kräftigen Zügen
aus besagter Pfeife, die in
Ermangelung von Tabak
mit welkem Laub ge
stopft war, sah ich midi