Full text: 1954 (0082)

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W. Jakobi, Saarbrücken 
Julius Langfinger 
Julius war ein Junge, der nicht nur immer 
das einsteckte, was ihm gehörte, sondern auch 
das, was ihm nicht gehörte. Obwohl ihm 
seine Eltern es dauernd verboten, obwohl sie 
ihm Schläge gaben, obwohl sie ihn einen Dieb 
nannten, — alles umsonst. Julius stahl weiter 
wie eine Elster. Aber einmal ereignete sich 
etwas Furchtbares, was Julius in seinem ganzen 
Leben nicht vergaß: 
Julius stand in einem Geschäft und kaufte für 
seine Mutter ein. Vor ihm stand eine Frau mit 
einem Henkelkorb im Arm. Neugierig, wie 
immer, spitzte Julius hinein. Achl Da lag ja 
etwas drin, was ihm sehr in die Augen stach: 
Es war ein silbern glänzendes Dösdien. Alle 
Mahnungen und Strafen der Eltern waren ver 
gessen. Ein schneller Griff, und Julius hatte das 
Silberdöschen geschickt in seiner Hosentasche 
verschwinden lassen. Die Frau mit dem Henkel 
korb hatte anscheinend nichts gemerkt; denn als 
sie den Laden verließ, lächelte sie sogar noch 
Julius zu, und doch durchzuckte es ihn in diesem 
Augenblick wie ein Blitz, denn das war ein so 
seltsames Lachen, wie er es noch nie in seinem 
Leben erlebt hatte. Doch kurz darauf hatte es 
Julius schon wieder vergessen. 
Kaum hatte er die eingekauften Sachen bei 
seiner Mutter abgegeben, als er schleunigst in 
eine stille Ecke des Gartens ging, um sich das 
glänzende Döschen etwas genauer anzusehen. 
Vor allem war er sehr neugierig auf seinen In 
halt. Wenn das außen schon wie Silber glänzte, 
— was würden erst für Schätze innen drin sein? 
— Aber Julius machte ein sehr enttäuschtes 
Gesicht, als er den Deckel abgeschraubt hatte. 
Kein Gold, kein Silber glänzten ihm entgegen. 
In dem Döschen war nur eine dunkelgraue 
Salbe. Enttäuscht wollte es Julius schon weg 
werfen, aber da kam ihm auf einmal ein sehr 
verlockender Duft in die Nase. Ach, was roch 
die Salbe gut! Vielleicht war sie gut für seine 
Hände, die vom vielen Spielen in der kalten 
Herbstluft ganz rot und rauh geworden waren. 
Also schnell griff Julius ins Döschen und 
schmierte sich tüchtig mit der dunkelgrauen 
Salbe die Hände ein. Aber merkwürdig, — als 
er jetzt an seinen Händen roch, war der feine 
Duft verflogen. Immer und immer wieder hielt 
er seine Hände ganz dicht an seine Nase, aber 
nichts, gar nichts mehr war zu riechen. — Doch 
was war denn das? — Starr vor Schreck blickte 
Julius auf seine Hände, besonders auf seine 
Finger. Seine Finger waren zusehends länger 
geworden, und je länger er darauf schaute, 
desto länger wurden sie. Als Julius seine Arme 
herunterhängen ließ, berührten die Fingerspitzen 
schon den Boden. Als Julius die Arme schnell 
wieder waagerecht hochhob, stieß er sich am 
Zaun, und als er sich schnell herumdrehte, be 
rührte er den Stamm des Apfelbaumes, der doch 
recht weit von ihm entfernt stand. Julius wagte 
sich nicht mehr von der Stelle. Zunächst wußte 
er nicht, ob er weinen oder lachen sollte. Nein, 
so etwas hatte er noch nie erlebt, und noch nie 
bei einem Menschen gesehen, sooooo lange 
Finger! 
Gerade, als Julius so rat- und tatlos dastand, 
riefen plötzlich seine Kameraden: „Julius! 
Juuuulius! Komm spielen!" — Julius stieg 
das Blut in den Kopf! Schnell fort! Schnell ver 
stecken! Doch wohin, mit so langen Fingern??? 
— Während er noch überlegte, waren seine 
Kameraden schon am Gartenzaun angelangt. 
Zuerst starrten auch sie entsetzt auf Julius lange 
Finger. Dann aber brachen sie in ein schallen 
des Gelächter aus: „Hahahaha! Seht einmal, was 
der Julius für lange Finger hat! Langfinger! 
Langfinger!" — Das war zuviel für Julius. So 
schnell wie der Wind wollte er davonsausen, 
aber das ging ja gar nicht so schnell wie sonst, 
denn seine langen Finger schleiften schon am 
Boden nach, überall stieß er mit ihnen an und 
tat sich sehr weh. Hinter sich aber hörte er das 
höhnische Lachen und Rufen seiner Spielkame 
raden: „Langfinger! Langfinger!" — Doch Julius 
biß auf die Zähne und lief so schnell es ihm 
seine am Boden nachschleifenden Finger er 
laubten bis in den Wald hinein. Als er sich end 
lich vor seinen Kameraden sicher fühlte, ließ 
er sich erschöpft auf einem Baumstumpf nieder. 
Dicke Tränen kullerten ihm über seine Wangen, 
als er seine langen und blutenden Finger neben 
sich auf dem Waldboden liegen sah. Ach, wie 
gerne hätte er sich Tränen und Blut abgewischt,
	        
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