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W. Jakobi, Saarbrücken
Julius Langfinger
Julius war ein Junge, der nicht nur immer
das einsteckte, was ihm gehörte, sondern auch
das, was ihm nicht gehörte. Obwohl ihm
seine Eltern es dauernd verboten, obwohl sie
ihm Schläge gaben, obwohl sie ihn einen Dieb
nannten, — alles umsonst. Julius stahl weiter
wie eine Elster. Aber einmal ereignete sich
etwas Furchtbares, was Julius in seinem ganzen
Leben nicht vergaß:
Julius stand in einem Geschäft und kaufte für
seine Mutter ein. Vor ihm stand eine Frau mit
einem Henkelkorb im Arm. Neugierig, wie
immer, spitzte Julius hinein. Achl Da lag ja
etwas drin, was ihm sehr in die Augen stach:
Es war ein silbern glänzendes Dösdien. Alle
Mahnungen und Strafen der Eltern waren ver
gessen. Ein schneller Griff, und Julius hatte das
Silberdöschen geschickt in seiner Hosentasche
verschwinden lassen. Die Frau mit dem Henkel
korb hatte anscheinend nichts gemerkt; denn als
sie den Laden verließ, lächelte sie sogar noch
Julius zu, und doch durchzuckte es ihn in diesem
Augenblick wie ein Blitz, denn das war ein so
seltsames Lachen, wie er es noch nie in seinem
Leben erlebt hatte. Doch kurz darauf hatte es
Julius schon wieder vergessen.
Kaum hatte er die eingekauften Sachen bei
seiner Mutter abgegeben, als er schleunigst in
eine stille Ecke des Gartens ging, um sich das
glänzende Döschen etwas genauer anzusehen.
Vor allem war er sehr neugierig auf seinen In
halt. Wenn das außen schon wie Silber glänzte,
— was würden erst für Schätze innen drin sein?
— Aber Julius machte ein sehr enttäuschtes
Gesicht, als er den Deckel abgeschraubt hatte.
Kein Gold, kein Silber glänzten ihm entgegen.
In dem Döschen war nur eine dunkelgraue
Salbe. Enttäuscht wollte es Julius schon weg
werfen, aber da kam ihm auf einmal ein sehr
verlockender Duft in die Nase. Ach, was roch
die Salbe gut! Vielleicht war sie gut für seine
Hände, die vom vielen Spielen in der kalten
Herbstluft ganz rot und rauh geworden waren.
Also schnell griff Julius ins Döschen und
schmierte sich tüchtig mit der dunkelgrauen
Salbe die Hände ein. Aber merkwürdig, — als
er jetzt an seinen Händen roch, war der feine
Duft verflogen. Immer und immer wieder hielt
er seine Hände ganz dicht an seine Nase, aber
nichts, gar nichts mehr war zu riechen. — Doch
was war denn das? — Starr vor Schreck blickte
Julius auf seine Hände, besonders auf seine
Finger. Seine Finger waren zusehends länger
geworden, und je länger er darauf schaute,
desto länger wurden sie. Als Julius seine Arme
herunterhängen ließ, berührten die Fingerspitzen
schon den Boden. Als Julius die Arme schnell
wieder waagerecht hochhob, stieß er sich am
Zaun, und als er sich schnell herumdrehte, be
rührte er den Stamm des Apfelbaumes, der doch
recht weit von ihm entfernt stand. Julius wagte
sich nicht mehr von der Stelle. Zunächst wußte
er nicht, ob er weinen oder lachen sollte. Nein,
so etwas hatte er noch nie erlebt, und noch nie
bei einem Menschen gesehen, sooooo lange
Finger!
Gerade, als Julius so rat- und tatlos dastand,
riefen plötzlich seine Kameraden: „Julius!
Juuuulius! Komm spielen!" — Julius stieg
das Blut in den Kopf! Schnell fort! Schnell ver
stecken! Doch wohin, mit so langen Fingern???
— Während er noch überlegte, waren seine
Kameraden schon am Gartenzaun angelangt.
Zuerst starrten auch sie entsetzt auf Julius lange
Finger. Dann aber brachen sie in ein schallen
des Gelächter aus: „Hahahaha! Seht einmal, was
der Julius für lange Finger hat! Langfinger!
Langfinger!" — Das war zuviel für Julius. So
schnell wie der Wind wollte er davonsausen,
aber das ging ja gar nicht so schnell wie sonst,
denn seine langen Finger schleiften schon am
Boden nach, überall stieß er mit ihnen an und
tat sich sehr weh. Hinter sich aber hörte er das
höhnische Lachen und Rufen seiner Spielkame
raden: „Langfinger! Langfinger!" — Doch Julius
biß auf die Zähne und lief so schnell es ihm
seine am Boden nachschleifenden Finger er
laubten bis in den Wald hinein. Als er sich end
lich vor seinen Kameraden sicher fühlte, ließ
er sich erschöpft auf einem Baumstumpf nieder.
Dicke Tränen kullerten ihm über seine Wangen,
als er seine langen und blutenden Finger neben
sich auf dem Waldboden liegen sah. Ach, wie
gerne hätte er sich Tränen und Blut abgewischt,