FÜR UNSERE
KLEINEN
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Die blauen Sammetsdiuhe
Von Werner Jakobi, Saarbrücken
S s waren einmal zwei Sdiwestern. Die sahen
C- einander sehr ähnlich, aber die eine war lustig
und ein Sausewind, die andere war ernst und
still. Die Mutter, die selbst gern lustig war, ver
wöhnte die jüngere, lustige Tochter, hielt sie zu
keiner Arbeit an und hieß sie tun, was ihr
gefiel. Die ältere, ernste Tochter aber mußte
alle Arbeit tun im Hause, ihr blieb nie eine
Stunde Zeit zu ihrem Zeitvertreib. Und da sie
ein gutes Herz hatte, das keinen Neid kannte,
wehrte sie sich nicht dagegen.
Das Dorf hatte einen Bürgermeister, der sehr
reich war und nur einen einzigen Sohn hatte.
Eines Tages sagte sein Vater zu ihm: „Bald ist
Kirchweih im Dorf. An den Abenden wird ge
tanzt und alle Mädchen des Dorfes werden kom
men. Es wäre Zeit, daß du dich unter ihnen nach
einer passenden Frau umschauest, du bis jetzt
alt genug."
„Ja“, meinte der Sohn, „aber es muß eine
recht lustige sein!" „Dann geh' am ersten Abend
allein hin“, schlug der Vater vor, „und such
dir eine aus. Am zweiten Abend will ich dann
mitkommen und sehen, ob du eine rechte Wahl
getroffen hast."
Die Kirchweih kam, und alle Mädchen im
Dorf rüsteten sich dafür. Auch die Lustige der
beiden Schwestern holte ihr schönes, leuchtend
blaues Kleid und ihre weißen Schuhe hervor. Die
Ernste wäre auch gerne zum Tanz gegangen
dieses Mal; ein schönes, weißes Kleid hatte sie
ja, aber keine Schuhe. Mit den Holzpantoffeln,
in denen sie den ganzen Tag herumlief, konnte
sie sich unmöglich auf dem Fest sehen lassen;
man hätte sie nur ausgelacht.
Traurig ging sie deshalb am Nachmittag in
den Wald, Holz sammeln. Mochte die Schwester
sich am Abend allein beim Tanz vergnügen.
Plötzlich stand ein altes Weiblein vor ihr, das
schwer an einem Bündel trug. Ohne viele Worte
nahm das Mädchen der Alten die Last ab und
trug sie ihr bis zu ihrer armseligen Hütte.
„Du bist ein gutes Herz", bedankte sich das
Weiblein, „du sollst auch etwas haben; nimm
diese Schuhe, sie werden dir Glück bringen.“
Mit diesen Worten reichte sie dem überraschten
Mädchen ein Paar wunderschöne, blaue
Sammetschuhe. Oh, nun konnte es doch noch
heute abend zum Tanz gehen. Es bedankte sich
bei der freundlichen Alten, packte sein Holz auf
und ging schnellen Schrittes heimwärts. Es
wusch sich fein sauber, zog das weiße Kleid
und zuletzt die blauen Sammetschuhe an. Kaum
aber hatte es sie an den Füßen, da merkte es, j
wie ihm so leicht und froh zumute wurde, wie
nie zuvor. Als es im Dorfkrug ankam, hatte der
Tanz schon längst begonnen. Der Sohn des
reichen Bürgermeisters aber hatte immer nur
mit der lustigen Schwester getanzt, denn sie
war die Lustigste von allen. Kaum aber hatte
die sonst ernste, stille Schwester den Saal be
treten, da sah sie der Bürgermeistersohn an.
Und weil sie in ihrem weißen Kleid, den blauen
Schuhen und dem fröhlichen Gesicht so schön
aussah, holte er sie gleich zum Tanz. Bald merkte
er, daß sie noch lustiger war als seine vorige
Tänzerin, und er wußte auch bald: „Die oder
keine wird meine Frau!" — Enttäuscht war die
lustige Schwester nach Hause gegangen, denn
sie wäre zu gern die Frau des reichen Bürger
meistersohnes geworden.
„Es wird wohl an den Schuhen liegen, meine
sind ja auch schon älter", meinte sie, „morgen
werde ich einmal die blauen Sammetschuhe an-
ziehen. Sie werden gut zu meinem blauen Kleid
passen, und ich werde die Allerschönste sein!"
Zur Schwester sagte sie am anderen Abend:
„Du kannst mir heute einmal deine Schuhe
leihen, ich gebe dir meine."
In ihrer Einfalt gab ihr die Schwester die
blauen Sammetschuhe. Sie selbst blieb zu Hause,
denn in den weißen Schuhen war ihr nicht nach
Tanzen zumute. —
Die Lustige aber schmückte sich und eilte mit
den Schuhen der Schwester zum Tanz in den
Dorfkrug. Kaum aber hatte sie den Saal be
treten, da fingen die Schuhe an, sie zu drücken
und zu zwicken, daß sie gar kein fröhliches
Gesicht machen konnte, und der reiche Bürger-