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DIE SIEBEN
Z wei bekannte Redensarten aus dem Volks
mund lauten: „Da staunt der Laie und der
Fachmann wundert sich“, oder „ich wundere
mich über gar nichts mehr.“ Wie man sieht, wer
den damit zwei Extreme gekennzeichnet. Das
erste drückt aus, daß es selbst für den Fach
mann noch Wunder gibt, das zweite besagt, die
größten Wunder der Welt imponieren nicht
mehr. In der Tat hängt die Anerkennung, was
als Wunder gilt oder nicht, sehr von der per
sönlichen Auffassung jedes einzelnen ab. Dem
einen imponiert eine Atombombe oder ein
Düsenjäger mit Schallgeschwindigkeit, aber daß
der Weltenraum endlich sein soll und einen
Durchmesser von 20 000 Trillionen km habe,
ist ihm völlig gleichgültig, dem anderen wieder
ist die Atombombe und der Flieger belanglos,
aber die Weltenraumfrage wertvoll. Diesem ist
es ein Wunder, daß man „fernsehen" kann,
jenem, daß die Ameisen sich „Milchkühe"
(Läuse mit süßem Saft) halten, dem dritten
erscheint es ein Wunder, wenn ein aufge
gebener Kranker wieder gesundet. Was Wunder,
wenn man sich darüber wundert, daß über das
Wunderbare so viele Meinungen existieren.
Schauen wir einmal in der Geschichte zurück,
was früher als Wunder angesehen wurde. Das
klassische Altertum sprach von den sieben
Weltwundern. Dies waren: 1. der Tempel der
Göttin Diana in Ephesus; 2. die ägyptischen
Pyramiden; 3. die hängenden Gärten der Semi-
ramis, der sagenhaften Erbauerin der Stadt
Babylon (Gärten auf den Dächern eines Pa
lastes); 4. eine Bildsäule des Gottes Zeus;
5. ein Grabmal des Königs Mausolos von 44 m
Höhe; 6. Eine Bronzestatue des Sonnengottes
von 32 m Höhe; und 7. ein Leuchtturm vor
Alexandria von 160 m Höhe mit acht Stockwer
ken, ganz aus Marmor gebaut. Von allen diesen
Weltwundern stehen heute nur noch die Pyra
miden.
Es handelt sich also bei diesen sieben Welt
wundern ausschließlich um Bauwerke. Zweifellos
hatten sie teilweise neben ihrer technischen
Großartigkeit auch gewisse kulturelle Werte.
Längst aber sind die antiken Baumeister durch
die heutige Technik in den Schatten gestellt.
Man denke nur an den Eiffelturm (320 m), an
das größte Hochhaus New Yorks (380 m), an
unzählige Riesenbauwerke wie Talsperren,
Alpentunnels von 12 km Länge, Riesenbrücken
bis 3 km Länge, Schiffshebewerke, die ganze
Schwimmbassins mit Schiffen heben, usw. Die
alten Römer und Griechen würden sich heute
über unsere Bauwerke wundern, wir uns aber
nicht über die ihren. Nein, die Bauwerke selbst
können kaum als Wunder angesehen werden,
es sei denn, daß sich in ihnen noch höhere Ziele
versinnbildlicht haben, wodurch sie gleichsam
zum Ausdruck übermenschlicher Größe oder
Schönheit werden. Wenn Generationen von
Menschen an solchen Werken wie dem Straß
burger Münster geschaffen haben, wenn diese
Werke zum geistigen Ausdruck ganzer Kultur
epochen werden, dann vermögen uns solche
Bauwerke Bewunderung abzunötigen.
Doch suchen wir weiter nach Wunderwerken,
ohne uns dabei an Bauwerke zu binden. Gren
zen nicht große naturwissenschaftliche Ent
deckungen und Erfindungen ans Wunderbare?
Die Röntgenstrahlen, die uns ins Innere des
Menschen blicken lassen? Das Fernrohr, das uns
ungekannte Welten neu erschloß, ebenso das
Mikroskop? Der Mensch unseres Jahrhunderts
hat sich daran gewöhnt, alle wissenschaftlichen
Entdeckungen, alle technischen Fortschritte, und
mögen sie noch so umwälzend oder gigantisch
sein, als etwas Selbstverständliches hinzu
nehmen.
Dennoch sollten wir einen Augenblick solche
Wunder genauer betrachten. Die griechische
Sage erzählt von Prometheus, der den Menschen
das Feuerwunder brachte, das er dem Himmel
entwendete. Zur Strafe wurde er auf Befehl
des Gottes Zeus an den Kaukasus geschmiedet,
wo ihm ein Adler täglich die in der Nacht wie
der wachsende Leber zerfleischte. Herkules be
freite Prometheus, der seitdem auf der Götter
burg im Olymp als Berater der Götter lebt. Man