127
AUS DEM SAARLÄNDISCHEN SAGENSCHATZ
Mutterliebe
V oin Klaus Schmauch
or vielen Jahren kam die junge Frau eines
Bauern mit einem Kinde nieder und starb
nach drei Tagen am Kindbettfieber. Der Bauer,
der erst ein Jahr verheiratet war, konnte den
jähen Tod seines Weibes kaum überwinden,
und während die Nadibarn die Tote in der
Stube aufbahrten und für ihre Seelenruhe be
teten, saß er in der entlegensten Kammer seines
Hauses und haderte mit seinem schweren Ge
schick.
»Warum hast du mir den kleinen Wurm zu
rückgelassen? Wer soll ihn pflegen und nähren,
da ich doch mitten in der Ernte stehe und nichts
von der Aufzucht eines Kindes verstehe?“ Der
Bauer starrte trostlos vor sich hin, und das
Weinen des Kindes, das hier und da an sein
Ohr schlug, verfolgte ihn auf Schritt und Tritt.
So brach die Nacht herein und nachdem die
Nachbarn das Haus verlassen hatten, schlich der
Bauer in die Stube und sprach zu der Toten:
„Was fang ich an, wenn das Kind mitten in der
Nacht aufwacht und nach der Mutter schreit?“
Als er keine Antwort erhielt, schlich er bedrückt
in die Schlafkammer, zündete eine Kerze an und
betrachtete lange das Kind. Es lag da mit ro
sigem Gesicht und schlief so ruhig und fest, als
ob ihm die Mutter nicht fehle.
Da stieg der Mann seufzend ins Bett, aber
die Sorge um das Kind und das Leid um die
tote JFrau ließen ihn keinen Schlaf finden.
„Ich muß eine Magd dingen, die das Kind mit
Kuhmilch aufpäppelt", ging es ihm durch den
Sinn. Aber er fand wenig Trost bei dem Ge
danken, denn eine Magd ist keine Mutter und
weiß nicht recht, was einem kleinen Kinde
gebührt.
Währenddessen zog die Mitternacht herauf
und der Bauer hörte, wie die nahe Kirchenuhr
zwölfmal schlug. Der letzte Ton war noch nicht
verhallt, da öffnete sich die Kammertür, die
Tote trat herein und näherte sich der Wiege
ihres Kindes. Der Bauer wollte etwas sagen,
brachte aber kein Wort hervor. Mit weitgeöff
neten Augen sah er, wie sie das Kind an ihre
Brust legte und stillte. Dabei glitten ihre Finger
liebkosend über den Kopf des Säuglings, und
um ihren bleichen Mund lag ein mütterliches
Lächeln.
Nachdem das Kind gesättigt war, legte es die
tote Mutter in die Wiege zurück, küßte es auf
die Stirne und entfernte sich.
„Frau, was soll das bedeuten?" rief der Bauer
hinter ihr her und sprang aus dem Bett. Da
wandte sich die Tote um, legte den Zeigefinger
auf den Mund und sah den Mann so bittend an,
daß er keine weiteren Fragen mehr wagte.
Dann fiel die Kammertüre hinter ihr ins Schloß,
und durch das schlafende Haus zog ein tiefer
Seufzer.
Als der Mann sich über die Bahre seines Wei
bes beugte, lag es stumm und regungslos da,
und die bittenden Augen waren wieder ge
schlossen.
Da dachte der Bauer, er hätte mit offenen
Augen geträumt, und wartete voll Ungewißheit
auf die nächste Nacht. Nachdem sich in ihr der
gleiche Vorgang wiederholte, begann der Mann
am Tode seiner Frau zu zweifeln. Um sich Ge
wißheit zu verschaffen, schwang er sich auf sein
schnellstes Pferd und ritt ins Nachbardorf. Dort
weckte er den Arzt, der ihm kopfschüttelnd zu
hörte, und sogleich mit ihm aufbrach, um die
seltsame Tote zu untersuchen.
Obwohl der Arzt aufs Neue das Ableben der
Frau bestätigte, war der Bauer so voller Zwei-