Full text: 1948 (0076)

181 
Das Amselnest 
Von Alfred PETTO, Herrensohr. 
V or emigen Tagen, als der alte Großvater die 
Stangen von der Giebelwand weghob, um 
sie in die Bohnenbeete zu stecken, fiel ein 
Vogelnest vor seine Füße. Drei Amsel junge 
hockten darin, noch nackt und blind und un 
geschickt. Sie reckten die schlaffen Hälse 
und sperrten mit hungrigem Schniebsen ihre 
großen, rosig glänzenden Schnäbel weit auf. 
„Jaja, schon gut“, dachte der alte Groß 
vater, „aber ihr seid mir die rechte Brut von 
Strauchdieben und Beerenräubern, ihr stehlt 
mir im Sommer meine kostbaren Kirschen 
und Trauben weg!“ Er stellte das Nest auf 
den Pfad und schlurfte ins Haus. Von irgend 
woher aus den Sträuchern tönte der Lockruf 
der Amselmutter, leise und angstvoll. „Nun 
ja“, murmelte der alte Großvater, „ich werde 
deinen Jungen einen schnellen und sanften 
Tod geben; du sollst nicht sagen, ich sei hart 
und gefühllos.“ 
Er stellte einen großen Topf mit Wasser 
auf den Gasherd, dann ging er wieder in 
den Garten. Es schien ihm doch ratsam, sein 
Vorhaben lieber im Hause auszuführen, an 
statt im Garten, wo jeder ihm Zusehen 
konnte. Das Nest stand noch im Pfad, die 
Amsel strich durch die Sträucher davon und 
setzte sich gegenüber auf den Dachfirst. Der 
alte Großvater nahm das Nest, dabei blickte 
er sich nach allen Seiten um, und dann 
schlurfte er wieder ins Haus. Doch als er die 
Treppe heraufsteigen wollte, kam Georg aus 
der Schule heim; er sah den alten Großvater 
mit dem Nest. 
„Ei, was hast du da, Großvater? Ein Nest! 
Laß sehen! O, wie schön, eins, zwei, drei 
Junge. Eine Amsel, ja? Trudi, Bidi!“, rief er 
auf die Straße. „Kommt rasch herein, der 
Großvater hat ein Nest mit ganz kleinen 
Amseln!“ Die Mädchen kamen hereingestürmt 
und sie ließen dem alten Großvater keine 
Ruhe, bis er ihnen das Nest zum Anschauen 
gab. 
Auch die Mutter der Kinder und Tante 
Emilie kamen hinzu und betrachteten die 
kleinen Nestlinge mitleidig oder verwundert. 
Und Georg schlug vor, das Nest mitzunehmen 
und oben auf den Küchenschrank zu stellen; 
er wolle die Amseln aufziehen. 
„Du kannst dir das Nest ansehen“, brummte 
der alte Großvater, „aber dann kommt es 
wieder in den Garten!“ Und er ging verdros 
sen in seine Stube hinauf. 
Georg kam nach einer Weile und las den 
anderen aus einem alten, stockfleckigen Vo 
gelbuch vor, daß man junge Amseln am 
leichtesten mit Semmeln, in Milch erweicht, 
kleinen Fleischstückchen und Käsequark auf 
ziehe. Frischer Käsequark sei überhaupt ein 
sehr geeignetes Futter; füge man noch Amei 
seneier und reife Kirschen hinzu, so gediehen 
sie vortrefflich. 
„Das finde ich köstlich!“, rief Tante Emilie 
hell auflachend aus. „Fleischstückchen und 
frische Semmel! Erzähl das nur ja deinem 
lieben Großpapa!“ 
Und Georgs Mutter sagte: „Ja, Georg, du 
meinst es gut, aber das können wir in dieser 
armen Zeit leider nicht mehr —“ 
„Ganz abgesehen davon“, fiel ihr Tante 
Emilie ins Wort, „daß euer lieber Großpapa, 
wie ich weiß, die Vögel ersäufen will, und 
das mit Recht, finde ich. Bei der heutigen 
Ernährung noch kleine Vögel großpäppeln, 
damit sie uns im Sommer die Kirschen und 
Beeren im Garten wegräubem . . großartig!“ 
Sie tupfte mit dem Zeigefinger auf ihre 
Stirne. 
„Ja, trag das Nest wieder in den Garten, 
Georg!“ 
Indessen begann oben in der Küche des 
alten Großvaters das Wasser zu kochen. Er 
stand am Herd und hörte Tante Emilies 
Worte und alles, was Georgs Mutter und die 
Kinder sagten. Die Kinder wollten von ihrem 
Fleisch, ihrem Brot und ihrer Milch her 
geben, und Georg erbot sich, jeden Tag Wür 
mer und Ameiseneier zu suchen, aber nie 
und nimmer dürfe der Großvater die armen 
Vögel umbringen. 
Da drehte der alte Großvater den Gashahn 
zu und stellte den Topf mit dem heißen 
Wasser beiseite. Dann stieg er die Treppe 
hinunter. 
„Gebt mir das Nest!“, sagte er mürrisch. 
Die Kinder riefen und bettelten wie aus 
einem Mund: „Aber du darfst sie nicht um 
bringen Großvater! Gelt, nein? Sie sind doch 
zu lieb!“ 
Der alte Großvater hob den Finger und 
sagte: „Gut, ich bringe sie wieder in den 
Garten. Kommt mir aber nicht im Sommer 
und wollt Kirschen oder Beeren!“ 
Er nahm das Nest und trug es wieder in 
den Garten. Keins der Kinder durfte mit 
gehen. Und er hatte so seine Gedanken da 
bei, als er das Nest auf die Erde stellte, in 
die Nähe des Zaunes durch dessen Loch 
mitunter die Katze des Nachbarn hereinge 
schlüpft kam, um nach Mäusen zu jagen. 
Dort stellte er das Nest hin und schlurfte 
wieder ins Haus. 
Aber so heimlich er das auch getan hatte, 
die Kinder fanden doch bald das Nest zwi 
schen den Sträuchern am Boden. Sie brach 
ten den emsig schnäbelnden Nestlingen ge 
mahlene Weizenkörner oder kleine Würmer,
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.