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Das Amselnest
Von Alfred PETTO, Herrensohr.
V or emigen Tagen, als der alte Großvater die
Stangen von der Giebelwand weghob, um
sie in die Bohnenbeete zu stecken, fiel ein
Vogelnest vor seine Füße. Drei Amsel junge
hockten darin, noch nackt und blind und un
geschickt. Sie reckten die schlaffen Hälse
und sperrten mit hungrigem Schniebsen ihre
großen, rosig glänzenden Schnäbel weit auf.
„Jaja, schon gut“, dachte der alte Groß
vater, „aber ihr seid mir die rechte Brut von
Strauchdieben und Beerenräubern, ihr stehlt
mir im Sommer meine kostbaren Kirschen
und Trauben weg!“ Er stellte das Nest auf
den Pfad und schlurfte ins Haus. Von irgend
woher aus den Sträuchern tönte der Lockruf
der Amselmutter, leise und angstvoll. „Nun
ja“, murmelte der alte Großvater, „ich werde
deinen Jungen einen schnellen und sanften
Tod geben; du sollst nicht sagen, ich sei hart
und gefühllos.“
Er stellte einen großen Topf mit Wasser
auf den Gasherd, dann ging er wieder in
den Garten. Es schien ihm doch ratsam, sein
Vorhaben lieber im Hause auszuführen, an
statt im Garten, wo jeder ihm Zusehen
konnte. Das Nest stand noch im Pfad, die
Amsel strich durch die Sträucher davon und
setzte sich gegenüber auf den Dachfirst. Der
alte Großvater nahm das Nest, dabei blickte
er sich nach allen Seiten um, und dann
schlurfte er wieder ins Haus. Doch als er die
Treppe heraufsteigen wollte, kam Georg aus
der Schule heim; er sah den alten Großvater
mit dem Nest.
„Ei, was hast du da, Großvater? Ein Nest!
Laß sehen! O, wie schön, eins, zwei, drei
Junge. Eine Amsel, ja? Trudi, Bidi!“, rief er
auf die Straße. „Kommt rasch herein, der
Großvater hat ein Nest mit ganz kleinen
Amseln!“ Die Mädchen kamen hereingestürmt
und sie ließen dem alten Großvater keine
Ruhe, bis er ihnen das Nest zum Anschauen
gab.
Auch die Mutter der Kinder und Tante
Emilie kamen hinzu und betrachteten die
kleinen Nestlinge mitleidig oder verwundert.
Und Georg schlug vor, das Nest mitzunehmen
und oben auf den Küchenschrank zu stellen;
er wolle die Amseln aufziehen.
„Du kannst dir das Nest ansehen“, brummte
der alte Großvater, „aber dann kommt es
wieder in den Garten!“ Und er ging verdros
sen in seine Stube hinauf.
Georg kam nach einer Weile und las den
anderen aus einem alten, stockfleckigen Vo
gelbuch vor, daß man junge Amseln am
leichtesten mit Semmeln, in Milch erweicht,
kleinen Fleischstückchen und Käsequark auf
ziehe. Frischer Käsequark sei überhaupt ein
sehr geeignetes Futter; füge man noch Amei
seneier und reife Kirschen hinzu, so gediehen
sie vortrefflich.
„Das finde ich köstlich!“, rief Tante Emilie
hell auflachend aus. „Fleischstückchen und
frische Semmel! Erzähl das nur ja deinem
lieben Großpapa!“
Und Georgs Mutter sagte: „Ja, Georg, du
meinst es gut, aber das können wir in dieser
armen Zeit leider nicht mehr —“
„Ganz abgesehen davon“, fiel ihr Tante
Emilie ins Wort, „daß euer lieber Großpapa,
wie ich weiß, die Vögel ersäufen will, und
das mit Recht, finde ich. Bei der heutigen
Ernährung noch kleine Vögel großpäppeln,
damit sie uns im Sommer die Kirschen und
Beeren im Garten wegräubem . . großartig!“
Sie tupfte mit dem Zeigefinger auf ihre
Stirne.
„Ja, trag das Nest wieder in den Garten,
Georg!“
Indessen begann oben in der Küche des
alten Großvaters das Wasser zu kochen. Er
stand am Herd und hörte Tante Emilies
Worte und alles, was Georgs Mutter und die
Kinder sagten. Die Kinder wollten von ihrem
Fleisch, ihrem Brot und ihrer Milch her
geben, und Georg erbot sich, jeden Tag Wür
mer und Ameiseneier zu suchen, aber nie
und nimmer dürfe der Großvater die armen
Vögel umbringen.
Da drehte der alte Großvater den Gashahn
zu und stellte den Topf mit dem heißen
Wasser beiseite. Dann stieg er die Treppe
hinunter.
„Gebt mir das Nest!“, sagte er mürrisch.
Die Kinder riefen und bettelten wie aus
einem Mund: „Aber du darfst sie nicht um
bringen Großvater! Gelt, nein? Sie sind doch
zu lieb!“
Der alte Großvater hob den Finger und
sagte: „Gut, ich bringe sie wieder in den
Garten. Kommt mir aber nicht im Sommer
und wollt Kirschen oder Beeren!“
Er nahm das Nest und trug es wieder in
den Garten. Keins der Kinder durfte mit
gehen. Und er hatte so seine Gedanken da
bei, als er das Nest auf die Erde stellte, in
die Nähe des Zaunes durch dessen Loch
mitunter die Katze des Nachbarn hereinge
schlüpft kam, um nach Mäusen zu jagen.
Dort stellte er das Nest hin und schlurfte
wieder ins Haus.
Aber so heimlich er das auch getan hatte,
die Kinder fanden doch bald das Nest zwi
schen den Sträuchern am Boden. Sie brach
ten den emsig schnäbelnden Nestlingen ge
mahlene Weizenkörner oder kleine Würmer,