Full text: 1948 (0076)

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Es kam tn den letzten Tagen oftmals vor, 
daß sie sich ein bißchen hängen ließ. Ihr Ge 
sicht war schmal geworden und durchsichtig, 
und um den Mund hatte sie richtige Sorgen 
falten. Sie gähnte, sobald es Abend wurde, 
und vermochte sich kaum auf den Beinen zu 
halten. Manchmal wechselte sie im Augen 
blick die Farbe. Aber dann konnte er auch 
sehen, wie sie sich mühte, wieder die alte zu 
•ein: munter, hurtig, das Vögelchen Martha. 
Sie hatte sich gewiß bei all den Sorgen, 
Laufereien und Arbeiten übernommen. Ihr 
zarter, zerbrechlicher Körper war einem sol 
chen Uebermaß an Anstrengung einfach nicht 
gewachsen. 
„So, von heute ab bleibst du morgens lie 
gen, wenn ich auf die Schicht gehe. Ich kann 
mir den Kaffee und das Schichtbrot auch 
selber machen! Ich weiß doch, wie es dich 
mitnimmt.“ Er sah sie an und fragte mit be 
sorgtem Kopf schütteln. „Wo tut es dir denn 
weh? Im Kopf? Am Herzen?“ Sie schlug die 
Augen nieder. „Aber irgendwo muß es dir 
doch wehtun! Und essen tust du auch nichts. 
Warte, ich kaufe dir etwas, ich habe gestern 
so schöne Weintrauben gesehen. Hast du Lust 
danach?“ 
Sie gab ihm erst keine Antwort und schürzte 
geringschätzig den Mund. „Ach nein, ich mag 
doch keine Weintrauben“, erwiderte sie zö 
gernd. 
Aber er sah ihr an, daß ihre Ablehnung 
nicht aus wirklicher Abneigung kam, son 
dern daß sie die Ausgabe scheute. 
„Hast du denn überhaupt schon Weintrau 
ben gegessen?“ 
„Natürlich . . . als ich noch bei Tambel» 
war!“ 
Er kniff ungläubig das Auge zu: „Wirk 
lich?“ 
Sie lachte ertappt und gestand, sie habe 
nur so gesagt, in Wahrheit habe sie noch nie 
Weintrauben gegessen, auch keine Apfel 
sinen, nein. 
„Dann warte, ich kaufe dir heute ein Pfund 
Weintrauben, und wenn es zwei Mark 
kostet!“ 
Sie freute sich unbändig, als er ihr de* 
Nachmittags eine ganze Tüte mit Weintrau 
ben brachte. Ein andermal schenkte er ihr 
Apfelsinen. Er schälte sie, tauchte die Schnitte 
in Zucker, und sie brauchte nur das Schnä- 
belchen aufzutun. Freilich, ganz wohl war ihr 
nicht bei dem Genuß, sie dachte an ihre 
Schulden. Ja, und noch andere Sorgen erfüll 
ten und quälten sie. 
Karrenschmidt half jetzt in der Schlosserei 
über Tage aus, legte und reparierte das Ge 
stänge. Mehr hatte er fürs erste gamicht er 
wartet, und er hielt sich den alten Verführer 
vom Leibe. Er ging an wie ein Licht. 
In diesen Tagen schrieb Martha abermals 
einen Brief an ihre Mutter. Sie bat und be 
schwor sie, doch von ihrem Trotz zu lassen 
und mit den Geschwistern zu kommen. Die 
Mutter schrieb auch gleich zurück: gut, ile 
wolle es sich überlegen; wenn sie es mit dem 
Vater noch einmal versuche, dann nur der 
Kinder wegen. Vielleicht komme sie dann 
nächsten Monat. 
Karrenschmidt erzählte es überall, und er 
häufte alles Lob auf seine Martha. 
So wäre er mit dem wiedergewonnenen 
Leben von Herzen zufrieden gewesen, wenn 
er sich nicht Marthas wegen hätte sorgen 
müssen. Mitunter fand er sie noch im Bett, 
wenn er des Nachmittags heimkam. Das arme 
Kind! Er nahm seinen Teller, setzte sich zu 
ihr ans Bett und aß. Aber wie konnte es ihm 
munden, solange Martha nichts aß! 
„Kannst du denn wirklich garnichts essen, 
Marthachen?“, fragte er unglücklich. „Ver 
such es nur einmal!“ Er hielt ihr eine Gabel 
voll hin, und sie nahm auch ein Schnäbel- 
chen voll. Doch wenig später sprang sie auf 
und lief aus der Stube. An anderen Tagen 
fühlte sie sich wieder recht gammer; er 
wurde nicht klug aus ihrer Krankheit. 
Aber eines Morgens, als sie wieder einmal 
für ihn auf gestanden war, geschah es, daß 
sie mitten im Feueranzünden aus der Küche 
ging. Er sah ihr nach. Lange Zeit kam sie 
nicht wieder zurück, und er ging ihr nach. 
Sie stand draußen an den Zaunpfahl gelehnt, 
ihr Kopf lag in der Armbeuge, und er hörte 
sie leise vor sich hinweinen. Da fiel es ihm 
wie Schuppen von den Augen. 
Sie winselte furchtsam, als er sie fragte, 
ob sie nun auch wisse, was ihr geschehen sei. 
„Jetzt schlägst du mich?“
	        
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