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Es kam tn den letzten Tagen oftmals vor,
daß sie sich ein bißchen hängen ließ. Ihr Ge
sicht war schmal geworden und durchsichtig,
und um den Mund hatte sie richtige Sorgen
falten. Sie gähnte, sobald es Abend wurde,
und vermochte sich kaum auf den Beinen zu
halten. Manchmal wechselte sie im Augen
blick die Farbe. Aber dann konnte er auch
sehen, wie sie sich mühte, wieder die alte zu
•ein: munter, hurtig, das Vögelchen Martha.
Sie hatte sich gewiß bei all den Sorgen,
Laufereien und Arbeiten übernommen. Ihr
zarter, zerbrechlicher Körper war einem sol
chen Uebermaß an Anstrengung einfach nicht
gewachsen.
„So, von heute ab bleibst du morgens lie
gen, wenn ich auf die Schicht gehe. Ich kann
mir den Kaffee und das Schichtbrot auch
selber machen! Ich weiß doch, wie es dich
mitnimmt.“ Er sah sie an und fragte mit be
sorgtem Kopf schütteln. „Wo tut es dir denn
weh? Im Kopf? Am Herzen?“ Sie schlug die
Augen nieder. „Aber irgendwo muß es dir
doch wehtun! Und essen tust du auch nichts.
Warte, ich kaufe dir etwas, ich habe gestern
so schöne Weintrauben gesehen. Hast du Lust
danach?“
Sie gab ihm erst keine Antwort und schürzte
geringschätzig den Mund. „Ach nein, ich mag
doch keine Weintrauben“, erwiderte sie zö
gernd.
Aber er sah ihr an, daß ihre Ablehnung
nicht aus wirklicher Abneigung kam, son
dern daß sie die Ausgabe scheute.
„Hast du denn überhaupt schon Weintrau
ben gegessen?“
„Natürlich . . . als ich noch bei Tambel»
war!“
Er kniff ungläubig das Auge zu: „Wirk
lich?“
Sie lachte ertappt und gestand, sie habe
nur so gesagt, in Wahrheit habe sie noch nie
Weintrauben gegessen, auch keine Apfel
sinen, nein.
„Dann warte, ich kaufe dir heute ein Pfund
Weintrauben, und wenn es zwei Mark
kostet!“
Sie freute sich unbändig, als er ihr de*
Nachmittags eine ganze Tüte mit Weintrau
ben brachte. Ein andermal schenkte er ihr
Apfelsinen. Er schälte sie, tauchte die Schnitte
in Zucker, und sie brauchte nur das Schnä-
belchen aufzutun. Freilich, ganz wohl war ihr
nicht bei dem Genuß, sie dachte an ihre
Schulden. Ja, und noch andere Sorgen erfüll
ten und quälten sie.
Karrenschmidt half jetzt in der Schlosserei
über Tage aus, legte und reparierte das Ge
stänge. Mehr hatte er fürs erste gamicht er
wartet, und er hielt sich den alten Verführer
vom Leibe. Er ging an wie ein Licht.
In diesen Tagen schrieb Martha abermals
einen Brief an ihre Mutter. Sie bat und be
schwor sie, doch von ihrem Trotz zu lassen
und mit den Geschwistern zu kommen. Die
Mutter schrieb auch gleich zurück: gut, ile
wolle es sich überlegen; wenn sie es mit dem
Vater noch einmal versuche, dann nur der
Kinder wegen. Vielleicht komme sie dann
nächsten Monat.
Karrenschmidt erzählte es überall, und er
häufte alles Lob auf seine Martha.
So wäre er mit dem wiedergewonnenen
Leben von Herzen zufrieden gewesen, wenn
er sich nicht Marthas wegen hätte sorgen
müssen. Mitunter fand er sie noch im Bett,
wenn er des Nachmittags heimkam. Das arme
Kind! Er nahm seinen Teller, setzte sich zu
ihr ans Bett und aß. Aber wie konnte es ihm
munden, solange Martha nichts aß!
„Kannst du denn wirklich garnichts essen,
Marthachen?“, fragte er unglücklich. „Ver
such es nur einmal!“ Er hielt ihr eine Gabel
voll hin, und sie nahm auch ein Schnäbel-
chen voll. Doch wenig später sprang sie auf
und lief aus der Stube. An anderen Tagen
fühlte sie sich wieder recht gammer; er
wurde nicht klug aus ihrer Krankheit.
Aber eines Morgens, als sie wieder einmal
für ihn auf gestanden war, geschah es, daß
sie mitten im Feueranzünden aus der Küche
ging. Er sah ihr nach. Lange Zeit kam sie
nicht wieder zurück, und er ging ihr nach.
Sie stand draußen an den Zaunpfahl gelehnt,
ihr Kopf lag in der Armbeuge, und er hörte
sie leise vor sich hinweinen. Da fiel es ihm
wie Schuppen von den Augen.
Sie winselte furchtsam, als er sie fragte,
ob sie nun auch wisse, was ihr geschehen sei.
„Jetzt schlägst du mich?“