Von d&i 'Ungeduld des tKexzens
PK. Es ist nun in zwei Jahren so gewesen;
wenn die Tage länger wurden, der knietiefe
Schlamm der Straßen sich in Staub verwan¬
delte, die Sonne immer wärmer auf die
nackten, feuchtglänzenden Flanken der zer¬
frorenen Erde niederschien und fast über
Nacht den hohen Sommer herbeizauberte,
fing die Unruhe an. Eine Unruhe, die in der
Ruhe der Front ihren Ausgang nahm, sich
in Weilen durch das ganze Operationsgebiet
fortpflanzte und bis in die fernsten Winkel
der fernen Heimat hinüberstrahlte.
Der Posten an der vordersten Schulterwehr
der Riesenfront im Osten empfand sie zu¬
erst. Er hatte den bitteren Kelch der Winter¬
schlacht bis zur Neige geleert und war zum
zweiten Mal mit aufrechtem Nacken durch
die entfesselte Hölle geschritten. Er war
durch weite Räume, die er im vergangenen
Sommer stürmend durchmessen, zurück¬
marschiert, den drängenden, übermächtigen,
frohlockenden Feind im Rücken, hatte sich
immer wieder festgekrallt im Schnee der
Steppe und die Flut, die ihn auf allen 'Seiten
gierig umspülte, aufgehalten. Manche Lage,
aus der es keinen Ausweg mehr zu geben
schien, war von ihm in letztem verbissenem
Kampf gemeistert worden. Dennoch hatte er
zähneknirschend die Gräber der Kameraden
in der winterlichen Einöde zurücklassen,
Straßen, Brücken und Schienenstränge unter¬
minieren, beschädigte Fahrzeuge verbrennen,
erschöpfte Pferde erschießen und liebgewor¬
denen persönlichen Besitz aufgeben müssen,
um sich selbst aus der drohenden Umklam¬
merung herauszuhauen.
All dies hatte er erlebt. Sein Herz war
rauh und hart geworden in den furchtbaren
Wochen, und sein Gemüt hatte sich ver¬
düstert über den unzählbaren Schrecken. Er
war müde und der Ruhe bedürftig. Es lag
kein Grund vor, anzunehmen, daß er ihrer
allzubald überdrüssig werden könne.
Obwohl seitdem erst eine kurze Spanne
Zeit verronnen ist, dünkt ihn der Ablauf
seiner Tage — gemessen an dem Gewesenen
— jetzt schon wieder zu still und ereignis¬
los. Nicht, daß es ihn nach Blut und Brand
gelüstete — dessen hat er genug gekostet —
aber er spürt in allen Gliedern jene fiebrige
Unruhe, die in der Natur, in den Dingen und
Menschen um ihn herum und in ihm selbst
begründet liegt. Er sieht, daß sich die gelich¬
teten Reihen wieder gefüllt haben, daß
frischer Ersatz eingetroffen ist und neue
Von Kriegsberichter Bert Naegel*
Waffen und Fahrzeuge aus der Heimat- ge¬
kommen sind. Bedeutsame Veränderungen'
Die bedeutsamste aber liegt bei ihm selbst
Vielleicht hat er das Glück gehabt, auf Urlaub
fahren zu dürfen, vielleicht haben auch nur
die Sonne, der Frühlingswind, das junge
Grün oder ein Lerchentriller die Wandlung
zuwege gebracht. Jedenfalls sind die harten
Schalen zersprungen, die sein Herz wie ein
Panzer umschlossen hielten und haben es
blank und unversehrt in seiner Brust ge¬
lassen. Mit einer tiefen Freude hat er be¬
merkt, daß es noch schlägt wie ehedem, daß
es nicht ein toter Stein ist, sondern immer
noch jener unablässig sprudelnde Quell, dem
er sein Leben verdankt und alles, was es
schön und gut macht.
Dieses Herz, das wiedererneuerte, ist es
auch, das nun die heilige Unrast und Unge¬
duld in ihm erzeugt, das sich nach dem
Kriege sehnt, um den Frieden zu gewinnen
Denn dies ist das Geheimnis: er, der Soldat,
sieht in seinem dritten Ostsommer ganz klar
den Weg, der noch vor ihm liegt, den er über
alle Höhen und durch alle Tiefen beschreiten
muß, zum Ziele hin. Sein Blick durchdringt
mit fast seherischer Kraft das neblichste
Gewölk, das in den Gründen liegt und ihn
irre machen will. Er weiß, daß noch schwere
Opfer von ihm gefordert werden — vielleicht
sogar das letzte — aber er ist bereit, sie zu
bringen, um des Sieges oder Friedens willen
Er weiß auch, daß eines dieser Opfer das
Warten ist, daß es Entscheidungen gibt, von
denen er nichts ahnt und denen er sich
unterordnen muß. Er ist bereit, selbst dies
in Kauf zu nehmen und sich wochen-, ja
monatelang, wenn es nötig sein sollte, zu be¬
scheiden. Denn daß nichts ohne Sinn unc
genaueste Überlegung geschieht in dieser
Phase des überdimensionalen Ringens, das
hat er längst erfühlt. So wie der Sieg reifen
muß, müssen auch die Schläge reifen, die ihn
vorbereiten.
An der Ostfront steht der Soldat in seinem
Graben und wartet. Vielleicht wird er in
einem oder mehreren Monaten noch immer
warten. Er tut es still und ohne Murren. Mit¬
unter nur, wenn die Sehnsucht nach Frau
und Kind wie eine ferne, himmlischsüße
Melodie in ihm aufklingt, horcht er hinaus,
oto nicht bald der letzte große Schlacht¬
gesang anhebe, der die anbrechende Morgen¬
röte verkündet. Dann ist sie wieder da: die
Ungeduld des Herzens.