sollte ihr ein gewisses Verständnis des Sinnes
dieses Schauspiels geben und sie so inspirie¬
ren. Es gelang indessen nicht. Tumses Hirn
kann diese klare Symbolik nicht erfassen. Sie
betrachtet das als ein neues und vergnüg¬
liches Spiel. Da wird sie wieder in das Lauf¬
ställchen gesetzt, und man verschiebt die
Versuche auf einen anderen Tag.
Nach stundenlangen anhaltenden Bemühun¬
gen mehrerer Tage ist man indessen genau
so weit. Tumse versteht weder direkte Auf¬
forderungen noch symbolische Andeutungen.
Man muß die Versuche aufgeben und ein
anderes Verfahren finden.
Endlich kommt man auf einen besseren
Plan, und eines Tages kann er schließlich
durchgeführt werden. Als man beim Mittags¬
tisch sitzt, entdeckt der Vater plötzlich, daß
Tumse, die im Laufställchen steht, eine etwas
verdächtige, ein wenig verkrampfte Stellung
einnimmt, die darauf hindeutet, daß etwas
geschehen soll. — Schnell wirft er Messer und
Gabel weg und springt auf:
„Den Pott!“ ruft er. „Den Pott, den Pott!“
Die Mutter stürzt aus dem Zimmer und
kommt eilends mit dem Töpfchen. Tumse
wird hochgehoben und daraufgesetzt. Erstaunt
sieht sie sich um. Es ist ganz still im Zimmer,
eine eigene feierliche Stille. Und da — end¬
lich — endlich — geschieht es! Wie Tumse
fertig ist, streckt sie beide Arme aus und
bricht stolz aus:
„A—a, A—a!“
Und dieses Mal ist es nicht nur ein Wort.
Der Vater hebt sie begeistert hoch und küßt
sie. Auch Großmutter und Tante Lotte küssen
sie, während die Klopse kalt werden. Mit
stolzen Schritten entfernt sich die Mutter mit
dem Töpfchen. Ein großer Augenblick ist das.
Und damit ist Tumse in die zivilisierte
Gesellschaft eingetreten. Sie ist eine Künst¬
lerin, die die Launen der Natur beherrscht.
Dus erste Gebot
Von Rudolf Schwanneke
Eines Abends, gerade als er im Hinüber¬
dämmern war, weckte Herrn Jenyashi, den in
der japanischen Hafenstadt Kobbe jedermann
bekannten Meister und Lehrer des ritterlichen
Jiu-Jitsu, ein verdächtiges Geräusch im Hause.
In der Annahme, daß er mit dem unlieb¬
samen nächtlichen Besuch eines jener in
Japan häufigen Einschleichdiebe zu rechnen
habe, erhob sich Herr Jenyashi von seinem
Lager. Er schlug weder Lärm, noch griff er
zum Revolver, sondern kroch auf allen Vieren
genau so geräuschlos, wie es Diebe zu tun
pflegen, nach einem Winkel des Hauses, wo
der ungebetene Gast unbedingt vorbeikommen
mußte, wenn er es wieder verließ. Hier setzte
er sich ruhig, obwohl innerlich erregt, da es
in kurzer Zeit der zweite nächtliche Besuch
war, den man ihm abstattete, mit unterge¬
schlagenen Beinen hin und wartete ab, was
geschehen würde.
Es dauerte auch nicht lange, da öffnete sich
vorsichtig die Tür. Herr Jenyashi griff zum
Schalter und machte Licht. Wie erstaunte er
aber, als vor ihm der gleiche sehnige, sport¬
lich trainierte junge Mann stand, den er erst
vor acht Tagen höflich hinauskomplimentiert
hatte, ohne, wie er jetzt bereute, die Polizei
alarmiert zu haben. In der einen Hand trug
der hartnäckige Jüngling in einem Bündel
sein Raubgut, in der anderen, abwehrbereit,
einen Dolch.
„Ich bin erstaunt, junger Mann,“ sprach ihn
der Herr des Hauses an, „daß Sie mich nach
so kurzer Zeit abermals mit Ihrem Besuch
beehren. Leider zwingen Sie mich durch Ihr
Verhalten, Ihnen nun eine kleine Kostprobe
meiner Kunst im Jiu-Jitsu zu verabreichen,
denn mein Ruf als Lehrer dieses hervor¬
ragenden Sports steht auf dem Spiel, wenn
man erfährt, daß man ungestraft bei mir
„Mäuschen“ spielen darf.“
Noch ehe Herr Jenyashi ganz ausgesprochen
hatte, flog der Besucher, trotz seines verteidig
gungsbereiten Messers, den Kopf voran, über
die Stufen durch die offene Tür, vor der er
bewußtlos auf der Straße liegen blieb.
Wenige Tage später wurde der bisher un¬
bescholtene Dieb wegen eines zweimal ver¬
suchten Diebstahls zu sechs Monaten Gefäng¬
nis verurteilt.
Dann wandte sich der Richter an Herrn
Jenyashi. „Warum haben Sie dem Ange¬
klagten die Hand gebrochen?“ fragte er. „Sie
sagten selbst aus, daß er nur in Abwehr¬
stellung aufgetreten sei und keinen Angriff
unternahm.“
Herr Jenyashi zuckte bedauernd die Achseln.
„Vielleicht verlor ich für Sekunden meine
Selbstbeherrschung. Ich war ehrlich empört
über die schnelle Folge seiner Besuche.“
„Als Meister und Lehrer des Jiu-Jitsu haben
Sie ganz besonders die Pflicht, beispielgebend
voranzugehen und das erste Gebot: Selbst¬
beherrschung — zu üben. Die alten Regeln
unserer Nation verlangen dies auf Grund der
Sitten der ritterlichen Samurais. Dem Jiu-
Jitsu-Kämpfer sind Schläge bekannt, die einen
Menschen töten können. Männer mit einem
derartigen Wissen müssen daher vor allem
beherrscht sein. Ich muß deswegen gegen Sie
eine Gefängnisstrafe von zwei Wochen ver¬
hängen.“
Im Namen der Jiu-Jitsu-Ethik bedankte
sich Herr Jenyashi für dies gerechte Urteil,
denn er bekenne sich schuldig, das Prinzip
der Selbstbeherrschung mißbraucht zu haben.
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