Full text: 72.1944 (0072)

sollte ihr ein gewisses Verständnis des Sinnes 
dieses Schauspiels geben und sie so inspirie¬ 
ren. Es gelang indessen nicht. Tumses Hirn 
kann diese klare Symbolik nicht erfassen. Sie 
betrachtet das als ein neues und vergnüg¬ 
liches Spiel. Da wird sie wieder in das Lauf¬ 
ställchen gesetzt, und man verschiebt die 
Versuche auf einen anderen Tag. 
Nach stundenlangen anhaltenden Bemühun¬ 
gen mehrerer Tage ist man indessen genau 
so weit. Tumse versteht weder direkte Auf¬ 
forderungen noch symbolische Andeutungen. 
Man muß die Versuche aufgeben und ein 
anderes Verfahren finden. 
Endlich kommt man auf einen besseren 
Plan, und eines Tages kann er schließlich 
durchgeführt werden. Als man beim Mittags¬ 
tisch sitzt, entdeckt der Vater plötzlich, daß 
Tumse, die im Laufställchen steht, eine etwas 
verdächtige, ein wenig verkrampfte Stellung 
einnimmt, die darauf hindeutet, daß etwas 
geschehen soll. — Schnell wirft er Messer und 
Gabel weg und springt auf: 
„Den Pott!“ ruft er. „Den Pott, den Pott!“ 
Die Mutter stürzt aus dem Zimmer und 
kommt eilends mit dem Töpfchen. Tumse 
wird hochgehoben und daraufgesetzt. Erstaunt 
sieht sie sich um. Es ist ganz still im Zimmer, 
eine eigene feierliche Stille. Und da — end¬ 
lich — endlich — geschieht es! Wie Tumse 
fertig ist, streckt sie beide Arme aus und 
bricht stolz aus: 
„A—a, A—a!“ 
Und dieses Mal ist es nicht nur ein Wort. 
Der Vater hebt sie begeistert hoch und küßt 
sie. Auch Großmutter und Tante Lotte küssen 
sie, während die Klopse kalt werden. Mit 
stolzen Schritten entfernt sich die Mutter mit 
dem Töpfchen. Ein großer Augenblick ist das. 
Und damit ist Tumse in die zivilisierte 
Gesellschaft eingetreten. Sie ist eine Künst¬ 
lerin, die die Launen der Natur beherrscht. 
Dus erste Gebot 
Von Rudolf Schwanneke 
Eines Abends, gerade als er im Hinüber¬ 
dämmern war, weckte Herrn Jenyashi, den in 
der japanischen Hafenstadt Kobbe jedermann 
bekannten Meister und Lehrer des ritterlichen 
Jiu-Jitsu, ein verdächtiges Geräusch im Hause. 
In der Annahme, daß er mit dem unlieb¬ 
samen nächtlichen Besuch eines jener in 
Japan häufigen Einschleichdiebe zu rechnen 
habe, erhob sich Herr Jenyashi von seinem 
Lager. Er schlug weder Lärm, noch griff er 
zum Revolver, sondern kroch auf allen Vieren 
genau so geräuschlos, wie es Diebe zu tun 
pflegen, nach einem Winkel des Hauses, wo 
der ungebetene Gast unbedingt vorbeikommen 
mußte, wenn er es wieder verließ. Hier setzte 
er sich ruhig, obwohl innerlich erregt, da es 
in kurzer Zeit der zweite nächtliche Besuch 
war, den man ihm abstattete, mit unterge¬ 
schlagenen Beinen hin und wartete ab, was 
geschehen würde. 
Es dauerte auch nicht lange, da öffnete sich 
vorsichtig die Tür. Herr Jenyashi griff zum 
Schalter und machte Licht. Wie erstaunte er 
aber, als vor ihm der gleiche sehnige, sport¬ 
lich trainierte junge Mann stand, den er erst 
vor acht Tagen höflich hinauskomplimentiert 
hatte, ohne, wie er jetzt bereute, die Polizei 
alarmiert zu haben. In der einen Hand trug 
der hartnäckige Jüngling in einem Bündel 
sein Raubgut, in der anderen, abwehrbereit, 
einen Dolch. 
„Ich bin erstaunt, junger Mann,“ sprach ihn 
der Herr des Hauses an, „daß Sie mich nach 
so kurzer Zeit abermals mit Ihrem Besuch 
beehren. Leider zwingen Sie mich durch Ihr 
Verhalten, Ihnen nun eine kleine Kostprobe 
meiner Kunst im Jiu-Jitsu zu verabreichen, 
denn mein Ruf als Lehrer dieses hervor¬ 
ragenden Sports steht auf dem Spiel, wenn 
man erfährt, daß man ungestraft bei mir 
„Mäuschen“ spielen darf.“ 
Noch ehe Herr Jenyashi ganz ausgesprochen 
hatte, flog der Besucher, trotz seines verteidig 
gungsbereiten Messers, den Kopf voran, über 
die Stufen durch die offene Tür, vor der er 
bewußtlos auf der Straße liegen blieb. 
Wenige Tage später wurde der bisher un¬ 
bescholtene Dieb wegen eines zweimal ver¬ 
suchten Diebstahls zu sechs Monaten Gefäng¬ 
nis verurteilt. 
Dann wandte sich der Richter an Herrn 
Jenyashi. „Warum haben Sie dem Ange¬ 
klagten die Hand gebrochen?“ fragte er. „Sie 
sagten selbst aus, daß er nur in Abwehr¬ 
stellung aufgetreten sei und keinen Angriff 
unternahm.“ 
Herr Jenyashi zuckte bedauernd die Achseln. 
„Vielleicht verlor ich für Sekunden meine 
Selbstbeherrschung. Ich war ehrlich empört 
über die schnelle Folge seiner Besuche.“ 
„Als Meister und Lehrer des Jiu-Jitsu haben 
Sie ganz besonders die Pflicht, beispielgebend 
voranzugehen und das erste Gebot: Selbst¬ 
beherrschung — zu üben. Die alten Regeln 
unserer Nation verlangen dies auf Grund der 
Sitten der ritterlichen Samurais. Dem Jiu- 
Jitsu-Kämpfer sind Schläge bekannt, die einen 
Menschen töten können. Männer mit einem 
derartigen Wissen müssen daher vor allem 
beherrscht sein. Ich muß deswegen gegen Sie 
eine Gefängnisstrafe von zwei Wochen ver¬ 
hängen.“ 
Im Namen der Jiu-Jitsu-Ethik bedankte 
sich Herr Jenyashi für dies gerechte Urteil, 
denn er bekenne sich schuldig, das Prinzip 
der Selbstbeherrschung mißbraucht zu haben. 
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