Full text: 72.1944 (0072)

Die Launen der Natur 
Erzählung von Erik Stockmarr. 
(Alleinberechtigte Übersetzung aus dem Dänischen v. Edmund Bickel.) 
Tumse hat eben ihren ersten Geburtstag 
gehabt und ist somit hoch in die Jahre ge¬ 
kommen, so daß eine der wichtigsten Begeben¬ 
heiten unmittelbar bevorsteht. Aus ihrem 
bisherigen etwas feuchten Dasein und Zustand 
soll sie jetzt in die zivilisierte Gesellschaft 
eintreten und in der Benutzung des Töpf¬ 
chens unterrichtet werden. Das ist ein großer 
Schritt, der gemacht werden soll, und wenn 
man der täglichen stundenlangen Arbeit folgt, 
Tumse begreiflich zu machen, wozu man ein 
Töpfchen benutzt, versteht man, daß es eine 
Kunst ist, eine große Kunst, das erwähnte 
Töpfchen zu bedienen. Tumse soll also jetzt 
in den Kreis derer treten, die diese Kunst 
meistern. Man kann nicht tun und lassen wie 
man will. 
Als der Tag angebrochen war, an dem die 
erste Unterrichtsstunde beginnen sollte, ver¬ 
sammelte sich die Familie im Wohnzimmer, 
Vater, Mutter, Großmutter, Tante Lotte, Onkel 
Sofus und außerdem der Hund Treu, der 
auch bei der Begebenheit anwesend sein 
sollte. Lehnstühle werden im Halbrund im 
Zimmer aufgestellt, und man setzt sich im 
Amphitheater zurecht. Der Vater zündet 
eine „Flora Danica“ anläßlich des Tages an. 
Die Spannung ist ungeheuer. Jetzt kommt 
Mutter vom Schlafzimmer mit dem Töpfchen 
herein, auf dem mit eleganten Buchstaben das 
Wort „Tumse“ gemalt ist, um Verwechslungen 
zu vermeiden. Man sieht der Uraufführung, 
die jetzt stattfinden soll, mit großen Erwar¬ 
tungen entgegen. 
Das Töpfchen wird mitten auf den Boden 
gestellt und von der erlesenen Gesellschaft 
mit etwas verlegenem Lächeln begrüßt. Tumse 
wird aus ihrem Laufställchen genommen und 
auf Mutters Arm zum Töpfchen getragen. 
Tumse ist mit dem von Mutter Eva erfun¬ 
denen Sommerkleid bekleidet und begrüßt 
das Töpfchen mit ausgebreiteten Armen und 
kleinen entzückten Freudenschreien. Es 
strahlt in weißer jungfräulicher Pracht. Nun 
nimmt sie Mutter unter die Arme und setzt 
sie vorsichtig auf das Töpfchen. Langsam 
kommt sie aus der Luft herunter und landet 
auf dem Möbel. Etwas überrascht sitzt sie 
und sieht sich im Parkett um, das ihr mit 
Begeisterungsausbrüchen huldigt. Mutter tritt 
ein paar Schritte zurück und betrachtet ihren 
kleinen Sprößling, der gut und sicher sitzt. 
Die Familie tut, was sie kann, um die Kleine 
mit ermunternden Zurufen zu animieren. Der 
Vater lächelt schelmisch und läßt seine tiefe 
Baßstimme klingen: 
„A-r-a, A—a“, sagt er und zeigt auf das 
Töpfchen. 
Die übrige Familie stimmt mit ein, und bald 
widerhallt das Zimmer von einem taktfesten 
Chor, der die bekannte Volksweise anstimmt: 
„A—a“. Unter gespannter Aufmerksamkeit 
starrt man auf das Töpfchen, auch Treu er¬ 
hebt den Kopf und spitzt die Ohren. Tumse 
guckt erstaunt die Gesellschaft an und schließt 
sich dem Chor an, über das ganze Gesicht 
lachend, und singt begeistert mit: „A—a“. 
Leider beschränkt sich ihr Beitrag auf das 
rein Gesangliche. 
Das Töpfchen ist weiterhin leer. Die 
Familie sinkt enttäuscht in die Stühle zurück. 
Da steht Tumse plötzlich auf und steht auf 
ihren O-Beinchen und schwankt vorwärts und 
rückwärts. Eben als sie fallen will, greift die 
Mutter nach ihr und setzt sie wieder auf das 
Töpfchen. Wie ein Teufelchen aus der 
Schachtel springt sie wieder hoch, wird wie¬ 
der hingesetzt und springt wieder hoch. Die¬ 
ser spannende Kampf wird eine kleine Weile 
fortgesetzt, bis Tumse zu weinen anfängt. 
Treu wendet sich ab und seufzt enttäuscht. 
Die Versuche werden jetzt eingestellt, da man 
darüber einig wurde, daß sich Tumse einfach 
nicht darüber klar ist, wozu man ein Töpf¬ 
chen benutzt. 
Diese Annahme stützt man auf den Um¬ 
stand, daß sie plötzlich ein Gespräch mit dem 
Töpfchen einleitet, das unabweislich darauf 
hindeutet, daß die Annahme richtig ist: 
„Baba“, sagt sie und streicht es zärtlich, 
„Baba, baba, baba!“ 
Die Familie hat jetzt die Hoffnung auf¬ 
gegeben, positive Ergebnisse der Bemühungen 
zu sehen. Man schlägt vor, Tumse ins Bett 
zu legen und an einem anderen Tag das Glück 
zu versuchen. Mutter meint jedoch, man sollte 
es mit einem theoretischen Kurs versuchen. 
Tumse muß erst verstehen, was geschehen 
soll. Man beratschlagt allgemein. Mutter ruft 
das Mädchen des Hauses und bittet es, mit 
eine Kanne Wasser zu kommen. Auguste 
kommt mit einer Kanne und wird von Tumse 
mit Jubel begrüßt. Tumse wird jetzt wieder 
auf das Töpfchen gesetzt, und Auguste be¬ 
kommt den Auftrag, Wasser in das Töpfchen 
zu gießen. 
Tumse guckt in das Töpfchen und betrach¬ 
tet mit Interesse den kleinen See, der auf 
dem Boden ist. Der rieselnde Ton des Wassers 
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