Die große Versuchung
Von Heinrich Riedel
Hoch im einsamen Gebirg der Nordseite
der Hohen Tauern schreitet ein Mann, dessen
noch jugendlichem Gesicht viele feine Fält-
chen ein leicht unharmonisches Aussehen ge¬
ben, über den Jochweg zu Tal. Er ist kein
Bauer und auch kein Stadtmensch; ein Schrei¬
ber vielleicht oder sonst einer von denen, die
auf dem Land in Büros arbeiten.
Er befindet sich auf einem wichtigen Boten¬
gang und kommt von seinem Heimatdorf,
einem großen Dorf von Bergmannsbauern, die
dort seit uralten Zeiten — schon die Augs¬
burger Fugger ließen in diesen Bergstöcken
nach Gold graben — auf immer noch etwas
altertümliche Weise das schimmernde Erz dem
Fels abgewinnen. Uber einigen Häusern seines
Dorfes war eine Lawine niedergegangen und
mehrere Bewohner waren schwer verletzt
worden. Da hatte er sich erboten, aus der
kleinen Stadt G. jenseits des Gebirgskammes
einen Arzt zu holen, denn die Lawine hatte
auch die Telefonleitungen zerrissen.
Der Mann stapft unter ersichtlicher An¬
strengung durch den hohen Schnee. Seit Men¬
schengedenken hat es nicht so viel Schnee
gegeben.
Neben ihm schreitet sein Hund, ein kräf¬
tiger Schäferhund. Beide sind müde; man
sieht es ihnen an. Kein Wunder, der Aufstieg
auf der anderen Seite hatte es in sich gehabt.
Und der Abstieg durch das langgezogene, zer¬
klüftete Tal, durch das im Sommer der schäu¬
mende, jetzt starr vereiste Wildbach zur fer¬
nen Salzach hin braust, war nicht minder
beschwerlich.
Es fängt wieder an zu schneien. Immer
dichter fallen die Flocken, wie lebendige
Schmetterlingswesen, wie Tüchlein, die sich
im Flug entfalten und huschgeschwind auf
der Erde breiten.
Die Sonne steht ihnen entgegen und ist
schon nahe an den Felsen am Rand des Blick¬
feldes. Eine Zeitlang noch ist sie ein ver¬
halten glimmender roter Kupferball, sehr nah
und scheinbar von so milder Wärme, daß
man sie mit der Hand hätte anfassen können.
Dann wird sie bleicher und sinkt auf einmal
ziemlich schnell weg, wie ein Ertrinkender.
Doch nun erglühn die Fels- und Schnee¬
zinnen in einem zarten Rosa. Die Bergwelt
steht wie ein aus Sehnsucht und Traum ge¬
wirktes Wunder da. Dann legen sich, als die
kosmische Glutmasse hinter den Bergen noch
tiefer hinuntergeschwebt ist, violette Tinten
darüber und ungeheure lohende Schwaden
scheinen aufzusteigen, als rauchten Zyklopen¬
essen gen Himmel.
Der Mann läßt sich nieder, um einen Wim¬
perblick zu schauen, und auch um zu rasten.
Denn er ist wirklich sehr müde. Und der Hund
legt sich sogleich neben ihn hin. —
Wie wohlig sitzt es sich auf dem weichen
Schnee. Er lehnt sich hintüber. Unaufhörlich
schweben die Flocken, wie von unsichtbaren
Fäden an den ihnen bestimmten Platz ge¬
zogen, hernieder.
Bald haben sie seinen Körper bedeckt. Er
schließt die Augen, und weiß es nicht. Der
Hund steht einmal auf, schüttelt sich, gähnt
und legt sich wieder, leise knurrend, neben
den Herrn.
Eine unendlich wohltuende Ruhe und Mü¬
digkeit breitet sich im Körper des Mannes.
Sein Denken verengt sich. Er liegt wie im
Vorstadium der Narkose. Er ist plötzlich ein
König. Wie bedeutungslos scheinen ihm jetzt
die kleinen und großen Sorgen des Alltags.
Wie komisch geradezu ist die Sucht der Men¬
schen, zu rennen, sich abzuhetzen, auf der
Jagd nach dem Glück, nach dem Erfolg. Wie
lächerlich ist ihre Einbildung, daß sie über¬
haupt etwas tun könnten. Sie können nichts
tun. Sie werden vom Schicksal wie Marionet¬
ten an unsichtbaren Fäden geführt. Das Seil,
an dem sie zappeln, ist lang, doch unzerrei߬
bar. So sinnt er . . .
Wie ein großes, in einem Blick und Augen¬
blick überschaubares Panorama liegt sein
Leben vor ihm, durchsichtig, und auch sein
eigenes Wesen mit allen Schwächen und Feh¬
lern. Er erkennt, weshalb er so oft den fal¬
schen Weg gegangen und findet es kinder¬
leicht, es in Zukunft besser zu machen. Aber
es will ihm dünken, dies Leben sei nicht wert
gewesen, gelebt worden zu sein; es sei auch
nicht der Mühe wert, es weiterzuwandern.
Wie eine schmerzlich-verführerische Blume
blüht in jedem Menschenherzen neben dem
sieghaften Trieb zum Leben die Sehnsucht
nach dem Tod. Wäre jetzt nicht die rechte
Gelegenheit, geht es ihm halbbewußt durch
den Kopf, sich auf halbwegs unauffällige
Weise davonzustehlen? Er braucht nur liegen
zu bleiben und er wird erfrieren in der Nacht.
Kann der Tod leichter sein? Er fühlt ihn in
der Ferne, obwohl er ihn noch nicht offen vor
sich zu nennen wagt. Er nennt es Schlaf.
Schlafen und träumen, des Körperlichen ledig
und nur Geist sein, das möchte er.
Merkwürdig, daß die Müdigkeit der Glieder
und des Denkens ein so wohliges Gefühl sein
kann. Er schwebt wie in warmen Wassern,
ohne jede Anstrengung, wie ein Fisch. Es
scheint ihm eine dumpfe Erinnerung aus Ur¬
zeiten, wo er wirklich als Fisch in tropischen
Meeren geschwommen, viele Millionen Jahre.
Er fühlt seinen Körper nicht mehr. Gott, laß
mich ewig so liegen und ruhen, denkt er.
Doch dann bohrt sich wie ein schmerzhaft
scharfer Dorn in sein Hirn das Wissen, daß
es höchste Zeit sei, aufzustehgn, um dem
dunklen Tor, das schon für ihn geöffnet
scheint, zu entrinnen.
Aber der Wille dazu ist sehr schwach. Er
lächelt über sein Vorhaben wie über ein müßi¬
ges Spiel, von dem er von vornherein weiß
wie es ausgeht.
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