Full text: 72.1944 (0072)

geahnt, wo du des Abends dein Haupt hin¬ 
legen würdest. Du bist von Gefahr zu Gefahr 
geeilt. Du warst wieder wie der Urmensch, 
der keinen Schritt ohne Bedrohung tun 
konnte. Deine Sinne haben sich geschärft, 
deine Witterung ist empfindlich geworden 
wie die eines edlen Tieres. Du warst wieder 
auf dich selbst gestellt und mußtest aus dem 
Augenblick heraus handeln, auf Gedeih und 
Verderb handeln, ein Nichts im Sturm des 
Schicksals und doch ein Wille, ein immer 
sich erneuerndes, zähes, unbeirrbares Den¬ 
noch. Du hast Menschenleben ausgetilgt und 
hast dein eigenes Leben hundertfach gewon¬ 
nen, indem du es einsetztest. Du bist ein Herr 
gewesen von solcher Herrlichkeit, wie du’s 
nie vorher warst und in Zukunft nie wieder 
sein wirst. Und du bist ein andermal unter 
einen Zwang gestellt worden, der härter war 
als ihn je ein Sklave hat ertragen müssen. 
Was du durchgemacht hast, das Höchste wie 
das Niedrigste, Gehorsam und Herrschaft, 
Wagnis und Verlust, Verzweiflung und Tri¬ 
umph, Einsamkeit und Bruderschaft, Himmel 
und Hölle, das weicht nicht wieder von dir, 
du hast es dir zu eigen gemacht, es ist dein 
neues Ich geworden. Als ein so Veränderter, 
als ein so tief Veränderter bist du nach Hause 
gekommen und deiner Frau entgegengetreten. 
Du warst wahrhaftig nicht mehr derselbe 
wie beim Abschied. 
Und deine Frau? Glaubst du, daß die Mo¬ 
nate und Jahre, in denen sie allein sein 
mußte, immer in tödlicher Angst um dein 
Leben, die langen, schlaflosen Nächte, in denen 
sie dalag und grübelte, spurlos an ihr vor¬ 
übergegangen sind? Glaubst du, daß es ihr 
ein Leichtes gewesen ist, die Verantwortung 
für die Erziehung der Kinder und für die 
Verwaltung deiner Habe ganz allein auf sich 
zu nehmen? Glaubst du, daß die Bewältigung 
der neuen und schwierigen Verhältnisse, die 
der Krieg für die Hausfrauen mit sich ge¬ 
bracht hat, nicht Kräfte in ihr hat wachsen 
lassen, die sie verwandelt haben? Deine Er¬ 
lebnisse waren machtvoller als ihre, gewiß, 
aber du bist ein Mann, und sie ist eine Frau. 
Wer will die Leiden der Seelen vergleichen? 
Wer will entscheiden, was das größere Opfer 
erfordert: zu warten und immer wieder zu 
warten, wenn auch im Gefahrlosen, oder 
voranzustürmen, wenn auch durch Not und 
Tod? Es kann kein Zweifel obwalten, daß die 
Ehefrau, die sich und die Ihren durch die 
vielen Monate des Krieges hindurchgebracht 
hat, ebenfalls eine andere geworden ist. 
Und so seid ihr denn, als ihr euch neu¬ 
lich gegenüberstandet, zwei erschütterte, 
zwei veränderte, zwei fremde Menschen ge¬ 
wesen. Und wie habt ihr euch verhalten? 
Ihr habt so getan, als wäre nichts geschehen. 
Nein, lieber Freund, zwei Menschen, denen 
das beschieden gewesen ist, was ihr erlitten 
habt, können unmöglich einfach dort fort¬ 
fahren, wo sie weiland aufgehört haben. Der 
eine glaubt den andern zu kennen und kennt 
doch nur einen längst Ausgelöschten. Da kann 
es ja gar nicht ausbleiben, daß sich ein Mi߬ 
verständnis an das andere reiht. So geht es 
nicht. Ihr müßt vielmehr vergessen, was da¬ 
mals war. Ihr müßt begreifen, daß ihr ein¬ 
ander fast so fremd seid wie zu jener Zeit, 
als ihr euch zum ersten Male in eurer Jugend 
begegnetet. Ihr müßt versuchen, wie damals, 
euch allmählich näher zu kommen. Ihr müßt, 
jeder auf seine Art, umeinander bemüht sein. 
Ihr müßt... Aber ich spreche ja nicht zu 
euch beiden, sondern nur zu dir. Du mußt 
um sie wie um eine Geliebte werben. Es hilft 
nichts, du mußt wieder ein Suchender, ein 
Dienender, . ein Tastender, ein Liebender 
werden. Es ist ja nicht deine Frau, an die du 
dich wendest, nicht dein vertrautes Eigen¬ 
tum, nicht deine stille Heimat in der Welt, 
es herrscht keine Sicherheit zwischen euch, 
ihr müßt von vorn anfangen, ganz von vorn. 
Und ihr dürft die Behutsamkeit nicht ver¬ 
gessen, die zwischen Suchenden und Seh¬ 
nenden zu sein pflegt, und nicht die Scheu 
und nicht die Achtung und nicht die Nach¬ 
sicht. Dann geschieht es vielleicht, daß ihr 
euch wiederum findet, inniger vielleicht, wer 
kann es sagen, als zuvor. 
Willst du das bei deinem nächsten Urlaub 
■nicht einmal versuchen? Und in der Zwi¬ 
schenzeit, wenn du an deine Frau schreibst, 
willst du nicht schon so zu ihr sprechen, als 
wüßtest du nichts mehr von ihrem Wesen. 
Du weißt ja auch nichts mehr von ihr. Ein 
unbekanntes Menschenkind hat einem unbe¬ 
kannten Soldaten einen Gruß geschickt und 
nun antwortest du, fragend, leise und guten 
Willens. Tu’s doch einmal! Ich bitte dich 
herzlich darum. Tu’s mit aufrichtiger Seele 
und ohne einen andern Hintergedanken als 
allenfalls den, daß ihr beide euch ein Inner¬ 
stes und Geheimstes unversehrt durch die 
wilden Zeiten hindurch bewahrt haben möch¬ 
tet, das wieder zueinander verlangt, wie viel 
Fremdes sich auch sonst eingestellt haben 
mag. 
Im Grunde ist es ja nichts Absonderliches, 
was ich dir, was ich euch zumute. Ich glaube 
nämlich, daß auch in ruhigen Zeitläuften 
eine Ehe nur dann bestehen kann, wenn 
beide Teile nie aufhören, tagtäglich umein¬ 
ander zu werben, als wäre die Bindung des 
Hochzeitstages nicht vorhanden. Eine Ehe ist 
nicht etwas Bestehendes, sondern etwas un¬ 
ablässig Werdendes, wie denn auch der 
Mensch sich nicht gleichbleibt, sondern in 
ewiger Verwandlung begriffen ist. Nur wer 
den Mut hat, jeden Morgen und jede Stunde 
gleichsam von neuem zu beginnen, kann eine 
Ehe führen. 
Ich schreibe dir dies alles aus eigener 
schmerzlicher und guter Erfahrung. Darum 
darfst du mir vertrauen. 
Vergiß dein Opfer für das Deutsche Kote Kreuz nichtl 
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