Völker in der Karikatur
John Bull, Marianne, Bruder Jonathan, der deutsche Michel
Wo stammt denn eigentlich John Bull her, der
Sicke, handfeste Bursche, der Ende des 18. Jahr
Hunderts in der Karikatur als die Personifika¬
tion des englischen Nationalcharakters auf¬
tauchte? 1712, im Ausgang des Spanischen Erb¬
folgekrieges, an dem England als Gegner Frank¬
reichs stark beteiligt war, erschien in London
der erste Teil einer geistvollen politischen Satire
mit dem weitschweifigen Titel „Ein Prozeß ist
ein bodenloser Abgrund, erläutert durch das
Beispiel des Lord Strutt, John Bull. Nicholas
Frog und Lewis Babonn, welche alles, was sie
hatten, in einem Rechtsstreit verloren". Die
Schrift erregte großes Aufsehen, wuchs schlie߬
lich auf vier Teile an und erhielt den Eesamt-
titel „History of John Bull". John Bull er¬
scheint in der Schrift als eine Art „Prozeß-
hansl": er führt zehn Jahre lang einen Prozeß
um eine Erbschaft, in dem er zunächst gewinnt
(gemeint ist der Spanische Erbfolgekrieg!), den
er aber wegen der zunehmenden Schuldenlast'
und aus anderen Gründen schließlich doch gütlich
beilegt: in seinen Schicksalen wird damit der
Uebergang zur Liquidierung des Krieges und
zum Utrechter Friedenskongreß gezeichnet; denn
die Schrift will dem Durchschnittsengländer
klarmachen, daß Englands Interessen genügend
gesichert seien und eine längere Fortsetzung des
opfervollen Krieges nur den Verbündeten zu¬
gute komme. Welche Persönlichkeit steckt denn
aber hinter diesem John Bull? Es ist Saint
John Volingbroke, der Schöpfer des Friedens¬
werkes von Utrecht, dessen Politik durch die
Schrift verteidigt und verherrlicht werden soll.
Seinen Namen schrieb man ebenso häufig Saint
John Vullingbrook. Der abkürzende Spitzname
John Bull, der übrigens auch in anderen Flug¬
schriften der Zeit für seine Person vorkommt,
ist daher leicht erklärlich und war den Zeitge¬
nossen wohl ganz geläufig.
Und warum heißt Frankreich Marianne?
Weist die phrygische Mütze, das Symbol der
Revolution, mit dem sie abgebildet wird, auf
die große französische Revolution hin. in der ja
auch eine Frau als „Göttin der Vernunft" ver¬
ehrt wurde? Dem steht aber entgegen, daß die
Bezeichnung Marianne erst feit der dritten Re¬
publik aufgekommen ist. Bei den geheimen Ge¬
sellschaften, die sich nach der Revolution von 1848
bildeten und über das ganze Land verbreiteten,
galt „Marianne" als Parole und Kennwort in
ganz beliebigen Sätzen der Unterhaltung, um
festzustellen, ob man einen Eesinnungsbruüer vor
sich hatte. So verknüpfte sich der Name aufs
engste mit dem Begriff Republik und als dann
die dritte Republik ins Land trat, wurde Ma¬
rianne gleichsam zu ihrem Sinnbild.
Bedeutend älter ist der Spitzname für den
Nordamerikaner. Bruder Jonathan. Gemeint ist
Jonathan Trimbull, der zur Zeit des nordame¬
rikanischen Freiheitskampfes eine Zeitlang Gou¬
verneur von Connecticut war und von Washing¬
ton wegen seiner Klugheit sehr geschätzt wurde.
Als man bei einem Kriegsrat zu keinem Schluß
kam, rief Washington aus: „Wir müssen Bruder
Jonathan zu Rate ziehen!" Das Wort wurde
seitdem sprichwörtlicher Ausruf in schweren La¬
gen und schließlich Symbol des Nordamerika-
ners. Der zweite, ebenfalls viel gebrauchte
Spottname. Uncle Sam --- Onkel Samuel, ist
weiter nichts wie die alte Abkürzung II. S. Am.
aus United States of America.
Ob der „deutsche Michel" auf den Erzengel
Michael zurückzuführen ist, der im Mittelalter
als Schutzpatron der Deutschen galt, ist zweifel¬
haft. Einleuchtender erscheint eine andere Er¬
klärung: Der Ausdruck war im Dreißigjährigen
Krieg der Ehrentitel des aus der Pfalz stam¬
menden und in schwedischen Diensten kämpfenden
umsichtigen und kühnen deutschen Generals Mi¬
chael Obentraut; er fiel 1625 im Kampfe gegen
Tilly. Der 'Ruf „der deutsche Michel" war in
manchen -Gegenden unter seinen Feinden ein
bekannter Warnungsruf. Die zunehmende Auf¬
lösung Deutschlands nach dem Kriege und das
Schwinden des deutschen National- und Selbst¬
bewußtseins brachten es mit sich, daß Reich und
Nation nur noch in -verächtlichem Sinne genannt
wurden. Denselben Weg ging natürlich der
„deutsche Michel", zumal in späteren Generatio¬
nen die Erinnerung an jenen General geschwun¬
den war: man zog auch ihm die Zipfelmütze
über die Ohren. K. W.
Die moralischen Kräfte sinken, wenn sie
nicht nach Erhöhung trachten, schämn«.»
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