Full text: 64.1936 (0064)

Das hinkende Huhn! 
Als vor einer Reihe von 2ahren die Berg¬ 
leute Braun und König gemeinsam ein Doppel¬ 
haus bauten und so sozusagen unter dasselbe Dach 
zogen, da wußte jeder im Dorf, dag eine dicke 
Freundschaft zwischen ihnen bestand. Die über¬ 
trug sich auch auf ihre jungen Frauen und Kin¬ 
der, und vertiefte sich im Leid, als Brauns ihren 
einzigen Sohn begruben und nur die Hilde be¬ 
hielten, die dann auch das einzige Kind blieb, 
während es bei Königs nur so von Kindern 
wimmelte. 
Nach und nach begann jedoch sich eine Feind¬ 
schaft zu entwickeln, ganz ohne dag die Männer 
es wollten. Jacob, der zweite von Königs 
Buben, erhielt eine Geige, weil er so musikalisch 
war und einmal in die Vergkapelle sollte. Das 
Geld für die Geige war vom Munde abgespart 
worden und die Geige selber der Stolz der gan¬ 
zen Familie. Da mutzte es kommen, datz aus¬ 
gerechnet zur gleichen Zeit Brauns ihre Erspar¬ 
nisse in einem Klavier anlegten und Hilde in 
die Klavierstunde schickten. 
Man denke sich, ein Bergmann und ein 
Klavier! Das war doch Grötzenwahn, und über¬ 
haupt, die Hilde wurde erzogen wie eine Prin¬ 
zessin. Dabei gab es bei Brauns Braten mitten 
in der Woche, während bei Königs Pellkartoffeln 
und Hering auf dem Mittagtisch standen. Ach, 
es war nicht so schlimm mit dem Luxus bei 
Brauns und der Braten bestand aus einem hal¬ 
ben Pfund Fleisch; aber Mutter König ver- 
grötzerte ihn zusehends und lag ihrem Manne 
dauernd in den Ohren. 
Es war Neid, der sich bei ihr regte, und Vater 
König hätte eigentlich ein Machtwort sprechen 
müssen; aber um des lieben Friedens willen . . . 
Als es so weit war, datz sie sich hüben und 
drüben nicht mehr anschauten, und sozusagen 
nicht mehr riechen konnten, litten vor allem zwei 
darunter: Hilde Braun und Jacob König. Sie 
suchten zu schlichten, aber ihre Vermittlerrolle 
nutzte nichts. Zwischen den beiden Gärten wurde 
eine Hecke gepflanzt, die im Laufe der Zeit 
ebenso mächtig und verwirrt wurde, wie die 
Feindschaft zwischen den beiden Familien. Hilde 
war ein hübsches Mädchen geworden; die Bur¬ 
schen im Dorfe sprachen von ihm. Wenn Jakob 
das hörte, dann knirschte er mit den Zähnen; 
denn er glaubte, das erste und alleinige Anrecht 
auf es zu haben. Aber da waren die Aussichten 
für ihn sehr schlecht, wenn nicht irgend etwas 
wenigstens die Väter wieder zusammenbrachte ... 
Bei Königs laufen die Küken zum ersten Male 
frei aus in diesem Jahre. Da zeigt es sich, datz 
ein Krüppel darunter ist. Es ist ein kleines 
graues Federbällchen, das nicht recht stehen kann, 
Eine Geschichte von Anni Gertner 
weil das linke Beinchen verkrüppelt ist. Ersäufen 
wäre das Beste. Aber da steht das Tierchen am 
andern Tage doch, ja es beginnt sogar zu laufen 
und zu hinken und ist so putzig anzusehen, datz 
alle darüber lachen müssen und niemand mehr 
daran denkt, es zu töten. Freilich der Katze wird 
es wohl nicht entwischen können! Aber drei der 
allerschönsten schneeweitzen Kücken werden von 
ihr aufgefressen; Hinkebeinchen jedoch ist immer 
noch da. Die Mutter stützt es, die Geschwister 
wollen nichts von ihm wissen und als es grotz 
genug ist, um mit auf den Hühnerhof zu gehen, 
wird es vom Hahn gebissen und vertrieben. Vor 
Hunger und Angst sucht Hinkebeinchen nach einem 
anderen Futterplatz und den findet es drüben 
bei Brauns Hühnern, wo es sonderbarer Weise 
als East mit allen Ehren empfangen wird. 
Datz Brauns etwas dulden, was von drüben 
kommt! Nein, das hätte man für unmöglich ge¬ 
halten. Aber sie müssen so über das Tierchen 
lachen, das sich mit seinem hinkenden Fützchen so 
putzig ausnimmt. Und dann, die Hilde liebt es 
aus Mitleid und . . . weil es von drüben kommt. 
Abends findet es bei guter Zeit den Weg wieder 
nach Hause. So geht es längere Zeit. Es frißt 
bei Brauns, aber sein Pflichtei legt es in das 
Nest bei Königs. Man sieht dem Spiel zu und 
rut nichts dagegen. Bis Hinkebeinchen eines 
Tages Kücken hat und mit der ganzen Gesell¬ 
schaft hinüber in Brauns Hühnerhof zieht, um 
sie dem Vater vorzustellen. 
„Das darf nicht sein," zetert Frau König, 
„die behalten die Kücken und wir haben das 
Nachsehen. Sogleich siehst du die Hecke nach, 
Jacob, und wenn die Kücken, neun sind es, wie¬ 
der alle hier sind, machst du die Lücke zu." 
Drüben hat man den Zuwachs auch bemerkt. 
„Sollen wir nun auch noch die Brut füttern?" 
sagt Frau Braun, „das ist doch wirklich zuviel 
verlangt. Heute mag es angehen, aber am 
Abend, wenn sie wieder draußen sind, siehst du 
einmal die Hecke nach, Hilde, und dann wird die 
Lücke geschlossen, verstehst du!" 
Die einzige Verbindung, die noch nach drüben 
besteht, soll abgebrochen werden! Hilde ist 
traurig; aber gehorsam geht sie am Abend hin¬ 
aus an die Hecke. Auch Jacob König sieht, wo 
Hinkebeinchen sich mit seiner Brut durchwindet 
und denkt: es war mir immer, als bringe das 
Huhn einen Gruß von drüben, schade! Und dann 
legt er sich auf den Bauch, um die Lücke zu unter¬ 
suchen. 
Drüben steht Hilde, er kann sie genau sehen. 
Jetzt setzt sie sich ins Gras. Sie sieht so traurig 
aus und Jacob tut das Herz weh. Man kann 
hier nicht gesehen werden vom Hause aus; es ist 
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