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schrocken, daß sie dem Vater mit Tränen um den
Hals fällt, der sie lachend beruhigt und mit lauter
Stimme eine ganze Kasserole voll Warmbier bestellt.
Am andern Tage fahren wir bei ganz gelindem
Wetter und indem der Schnee wie in ganzen Läm¬
mervliesen herunterflockt durch einen unerme߬
lichen Föhrenwald, der in Ostpreußen eine Heide
genannt ist. Ich sitze, da weiter keine Gefahr mit
Erfrieren vorhanden, ganz wohlgemut und munter
zwischen den lieben Eltern und schaue in den fabel¬
haft langen Baumweg, der wie ein gotisches Ge¬
wölbe aus den hoch aufgeschossenen Fichten gebildet
ist, welche von der Schneelast gegeneinander ge¬
bogen sind: so daß von Zeit zu Zeit ein Klumpen
Schnee wie eine kleine Lawine auf unser altes
Schlittenverdeck oder auf die Pferde niederstürzt.
Zwischen den Schneemassen blickt überall das herz¬
erfrischende Weihnachtsgrün der Kiefern und Fich¬
ten hervor, die wie große heilige Christbäume zu¬
hauf stehen.
Ich empfinde und denke nichts weiter als die
gleichmäßige und stille schnelle Bewegung des
Schlittens: mir ist so reinlich, so säuberlich und
dann wieder so mystisch, so verwandlungsvoll, so
feierlich und weihnachtlich bis in die innerste Seele
hinein, daß ich in lauter Weihnachtsstimmung, also
gar nicht bei gewöhnlichem Menschenverstände bin.
Mir ist vielmehr so märchenhaft, wie wenn die ganze
Welt zu lauter Schnee und Weihnachten werden
will: als wenn ich selbst ein warmes und leibhaf¬
tiges Schneewetter und Weihnachtswunder bin, in
dessen heilige Stille das Schlittengeläute feierlich
und wundersam hineintönt, wie die Glocke des
heiligen Christes, der die großen Menschenkinder
im eingeschneiten Walddome zur Weihnachtsbe¬
scherung ruft. Damit sie nun nichts anderes hören,
sehen und empfinden, so wird mit der jungfräulichen
Unschuld der Mutter Maria und des Christkindes
die schwarze, harte Menschensünde so zugedeckt, ver¬
wandelt, gereinigt und verträumt, wie der schwarze,
hartgefrorene, von jedem Tritt widerhallende Erd¬
boden weich und weiß mit Schnee überdeckt wird.
So ungefähr war mir das, oder ist mir das heute.
Und in solcher dicken Weihnachtsstimmung kom¬
men wir zu dem Städtchen der Großeltern und
durch das betürmte, in Ritterzeiten gebaute Tor.
Aber wenn das auch nicht gewesen wäre, so
mußten wir doch alle von mancherlei Gefühlen be¬
stürmt sein. Meiner Mutter Heimat und ihre Ge¬
burtsstätte umfingen uns hier. Der Vater halte
hier um seine Lebensgefährtin gefreit: er hatte in
diesem Städtchen viele Jahre in Garnison gestan¬
den und hier seine Jugendzeit verlebt: ich selbst
aber fuhr zum erstenmal mit vollem Bewußtsein in
die Stadt.
Wir schwiegen also alle mitsammen stille, aber
die Eltern hielten sich bei den Händen, die Mutter
brachte das Taschentuch an die Augen, und ich hatte
nicht Augen und Sinn genug, um das zu bewälti¬
gen, was jeden Augenblick an Wundern zum Vor¬
schein kommen oder vielmehr auf uns losstürmen
Nlußte. So stand's mit uns.
Mein Vater suchte wohl seine Rührung hinter
den Versen eines alten Soldatenliedes zu ver¬
bergen, von denen ich nur zwei Strophen behalten
habe, die er allemal hergesagt hat, wenn ihm so
recht behaglich oder wundersam zumute war.
Mit zitternder Stimme und halblaut sang der
alte Herr vor sich hin:
„O wunderbares Glück,
Kehr' noch einmal zurück!"
Man hatte mich in ein Oberstübchen zu Bette ge¬
bracht, und es geschah zum erstenmal, daß ich unter
dem frommen Gesänge des Nachtwächters einschlief,
dessen zehnmaliges Pfeifen mir noch mehr zu schaffen
gemacht hätte, wenn ich nicht so todmüde gewesen wäre.
Am andern Morgen aber weckte mich die Reveille
des Trompeters auf den ich schon im Traume ge¬
hört. Es waren mir entzückende und unbegreifliche
Töne, wie eines ungeheuern messingenen Hahns,
und als sie unter dem Fenster erschallten, war es
mir durchaus so, als kämen sie geradeswegs zur
Stube herein, und als schmetterten und krähten sie
mir das Weihnachtswunder in den Kopf.
Nachdem es wieder still geworden war, fühlte ich
mich einen Augenblick wie berauscht und verwirrt.
Als rch mich aber ein wenig in meinen Bewußt-
baftigkeiten examiniert und zur süßen Gewohnheit
des Daseins orientiert hatte, brachte ich zu meiner
dreifachen Wonne ordentlich heraus: daß heute der
erste heilige Christfeiertag, daß ich bei den Gro߬
eltern einlogiert und in einer wirklichen Stadt
angelangt sei.
Als ich inne geworden war, wo ich denn eigentlich
befindlich und was mir alles in die nächste Aussicht
gestellt sei. da zappelte mir mein armes Hcrzlein
wie ein Lämmerschwänzlein in der Brust.
Die obwaltenden Finsternisse disharmonierten
allzu dusterlich mit den hellen Lichtern in meiner
Weihnacht feiernden Seele. Ich mußte notwendig
auch von draußen Licht haben, um die altpreußische
Wunderstadt oder doch die großelterliche Schlaf¬
gelegenheit zu besehen. Ich mußte mit der goldenen
herzigen Mama vom Trompeter plaudern und in
der Geschwindigkeit so ein paar Dutzend Frage¬
zeichen und Wunder vom Herzen loskriechen, bevor
vielleicht der Papa und die halbe Welt dazwischen¬
kam: denn lange ließ mich mein Erzeuger mit der
allzu gütigen und zärtlichen Mama nie allein. Und
doch wollte ich die liebe, gewiß auch müde gemachte
Mutter nicht aus ihrem süßen Schlummer auf¬
stören, darum hüstelte und rabastelte ich nur ein
ganz klein wenig in meinem weichen Lagerchen, bis
denn doch die wankelmütigen Bettpfosten so laut
ächzten und meine redelüsternen Lippen so ver¬
nehmlich wisperten, daß die liebe Mama mit ihrer
so sanften, zum Herzen schleichenden Stimme fragte:
„Na, mein Jungchen, du kannst wohl schon vor
Freude nicht länger schlafen: ich bin auch schon
lange wach, komm nur schon ein bißchen zu mir,
du hast doch ja in deinem Bettchen keine Ruhe: aber
stoße dich nur nicht, hörst du?"
Ach, wie schnell war ich bei dieser himmlischen
Lockrede auf meinen nackten Beinen und bei der
Mutierseele, die nach mir verlangte, wie ich nach
ihr das sehnsüchtigste Verlangen trug!
Jetzt waren wir beieinander, und ich hatte mich
mit einer wütenden Zärtlichkeit angekuscht, so daß
mich die Mama zur Vernünftigkeit ermahnen mußte:
da hörten wir bei dem über Nacht wieder einge¬
tretenen Frostwetter die hallenden Schritte der
Leute auf der Gasse, so daß mir zumute war, als