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auch zahllose Nachah m ungen entstanden. Gab
es doch u. a. einen ,,italienischen, französischen, sächsi¬
schen, schlesischen, niedersächsischen, schwedischen, kur-
pfälzischen, ostfriesischen, österreichischen Robinson"
und viele andere: auch manche wunderlicher Art: so
einen „jüdischen", einen „medizinischen" und einen
„unter der Maske eines teutschen Poeten räsonieren¬
den", schließlich sogar einen „unsichtbaren" Robinson.
Auch das weibliche Element kam nicht zu kurz, gab
es doch auch eine „europäische Robinsonette" und eine
„Robinse mit ihrer Tochter Robinsgen". Die poetisch
wertvollste unter den deutschen Robinsonaden der
damaligen Zeit war die „Insel Felsenburg" des stol-
bergischen Kammersekretärs Schnäbel (1731), die
später Ludw. Tieck erneuert hat.
Vor allem war es der erzieherische Wert
des Buches, der z. B. den berühmten Philosophen
Jean-Jacques Rousseau in seinem Buche:
„Emile, oder über die Erziehung" veranlaßte, zu
fordern, daß „diese G e s ch i ch t s d i ch t u n g
als einziges Brich für den heran¬
wachsenden Knaben in Betracht komme,
Eniils Zeitvertreib und Unterricht
zugleich s e i." Der Zögling soll sich mit dem
Helden des Buches personifizieren, ihn zu übertreffen
versuchen. „So wird er alles wissen wollen, was
nützlich ist, und nur das wissen wollen. Man
wird nicht nötig haben, das Kind zu führen, man
wird es nur zurückzuhalten brauchen!" —
Dieser Gedanke, den Rousseau hier ausgesprochen,
veranlaßte den deutschen Pädagogen und Schrift¬
steller Johann Heinrich Campe, zu rein päda¬
gogischen Zwecken den Stofs der Robinsonaden zu
erneuern in „Robinson der Jünger e". Er
stellte in seiner Vorrede den Zweck dieser Erneue¬
rung wie folgt dar:
„In der Geschichte des alten Robinson gibt es
etwas, welches einen der größten Vorteile vernichtet,
den diese Geschichte stiften könnte; ich meine den
Umstand, daß Robinson mit allen europäischen Werk¬
zeugen versehen ist, deren er nötig hatte, um. sich
viele von denjenigen Bequemlichkeiten zu verschaffen,
welche das gesellschaftliche Leben gesitteten Menschen
gewährt. Dadurch geht der große Vorteil verloren,
dem jungen Leser die Bedürfnisse des einzelnen
Menschen, der außer der Gesellschaft lebt, und das
vielseitige Glück des gesellschaftlichen Lebens recht
anschaulich zu machen... Ich zerlegte daher die ganze
Geschichte des Aufenthalts meines „jüngeren Robin¬
sons" auf seiner Insel in drei Zeiträume. In den
ersten sollte er, ganz allein und ohne alle euro¬
päische Werkzeuge, sich bloß mit seinem Verstände
und mit seinen Händen helfen, um aus der einen
Seite zu zeigen, wie hilflos der einsame Mensch ist,
auf der anderen, wieviel Nachdenken und anhaltende
Strebsamkeit zur Verbesserung unseres Zustands
vermögen. In dem andern- geselle ich ihm einen
Gehilfen bei, um zu zeigen, wie sehr schon die bloße
Geselligkeit den Zustand des Menschen ver¬
bessern kann. In dem dritten endlich ließ ich ein
europäisches Schiff an seiner Küste scheitern, und ihn
dadurch mit Werkzeugen und den meisten Notwendig¬
keiten des Lebens versorgen, damit der große Wert
so vieler Dinge, die wir gering zu schätzen pflegen,
weil wir ihrer nicht entbehrt haben, recht einleuch¬
tend würde." —
Um aber dem Buche, das in kurzer Zeit eine sehr
hohe Auflage erlebte und tatsächlich jahrelang in den
Schulen als deutsches Lesebuch gebraucht, auch „von
Kadix bis Moskau und Konstantinopel in alle euro¬
päischen Sprachen, sogar in die russische, die neu¬
griechische und altböhmische, überseht worden ist" noch
mehr Wert zu verleihen, ist es in der Form einer
getreuen Niederschrift gehalten, wie Vater Campe es
feiner Familie und den in ihr zur Miterziehung auf¬
genommenen Kindern an 31 Abenden erzählte, unter
Anführung der einzelnen Zwischenfragen der Kinder,
und, damit die pädagogische Absicht voll erreicht
werde, auch ihrer Beschäftigung. Ta finden wir die
Briefe, die die begeisterten Kinder ihrem Freunde
Robinson, von dem sie annehmen, daß er noch lebe,
geschrieben: da lesen wir, wie alle, der Vater als
Erzieher mit gutem Beispiel voran, sich freiwillig
Entbehrungen auferlegen, um Selbstbeherrschung zu
üben: wir lesen von ihren Bastelkünsten gerade so
gut wie von ihren Feld- und Gartenarbeiten und
von der Stählung ihres Willens zum Guten, und
als Krone des ganzen wird uns die Szene vorgeführt,
in der sämtliche Kinder beim Zahnarzt Proben ihres
Mutes und ihrer Standhaftigkeit abgeben. „Man
erzählt euch dies, ihr jungen Leser," sagt Campe,
„damit ihr seht, wie weit man es in der Seelenstärke
bringen kann, wenn nian von kleinen zu immer
größeren Übungen fortschreitet." —
Aus ähnlichen pädagogischen Gründen stelle
W h ß *), in der Meinung, daß die eingestreuten
Familiengespräche bei Campe doch ihren Zweck ver¬
fehlen würden, weil die Jugend über sie ebenso wie
über die dem Einsamen Trost gewährenden Kirchen¬
lieder „hinweqlesen" würde, in seinem „Schweizer
Robinson" von vornherein eine Familie in den
Mittelpunkt der Erzählung.
Eine Familie als Helden der Erzählung finden wir
auch in Marryats „Schiffbruch des Pazific",
vom Verfasser natürlich wie alle seine Seeabenteuer¬
romane für Erwachsene geschrieben, aber ebenfalls in
fast allen Knltursprachen auch als Jugendlektüre
bearbeitet, so deutsch von Meister unter dem Titel
„Sigismund Rüstig'. —
Auch heute ist die Lust an Robinsonaden noch
keineswegs erloschen. So gibt es eine ganze Anzahl,
namentlich lebensreformerischer, Schriften, die aus¬
malen, wie ihre Ideale auf irgend einer einsamen
Insel durchgeführt werden. In gewisser Hinsicht
haben diese ihren Vorläufer schon in der klassischen
Literatur in Heinses Roman „Ardinghello oder die
glückseligen Inseln", den wir aber oben nicht unter
den „Robinsonaden" erwähnten, weil hier die Inseln
eben nur als Schauplatz einer neuen „Gemeinde" in
Betracht kommen, und die Hauptsache künstlerische
und philosophische Betrachtungen darstellen. Richtige
Robinsonaden sind diese also alle nicht, weil nicht
mehr der einsame Mensch (oder höchstens eine
Familie), sondern eine größere Gemeinschaft Helden
der Erzählung sind, ebensowenig wie die Schilderung
*) Interessant ist. daß Wt>ß im Vorwort seines Werks lebhaft
gegen Campe polemisiert, weil dieser im ersten Teil dem werkzeug-
beraubten Robinson durch allerlei merkwürdige Zufälle zu Hilfe
komme: so durch den Fund eines wie eine Axt gestalteten, ja be¬
reits von Natur mit einem Loch zum Hineinstecken des Stiels ver¬
sehenen Steiner, durch den zur rechten Zeit ausbrechenven, den
nötigen Kalk zum Mauern liefernden und dann gleich wieder er-
löickenden Vulkan usw., auch die Levre der göttlichen Prädestination
allzusehr predige und in seiner Erzählung zu beweisen mche.