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Die Episode schildert,
wie der Oheim Grüne¬
baum, ein ehrsamer
Flickschuster, seinen Nef¬
fen erwartet, der gerade
sein Abitür macht!
„In seinem Sonn¬
tagshabit stand der
Oheim Niklas Grüne¬
baum an der Ecke, dem
Gymnasium gegenüber,
und glich insofern einem
Engel, als er einen schö¬
nen langen Rock trug,
welcher freilich, was den
Schnitt betraf, wenig
mit den Gewändern der
Heiligenbilder gemein
hatte. Tie Taille dieses
Rockes war durch den
Verfertiger dem Nacken
so nah als möglich ge¬
rückt, und zwei Nonplus¬
ultraknöpfe bezeichneten
ihren Beginn. Deutlich
zeichneten sich die
Taschen in der unteren
Gegend der Schöße ab,
und eine kurze Pfeife
mit anmutig schaukeln¬
den Quasten sah neu¬
gierig aus der einen her¬
vor. Eine gelb- und
braungestreifte Weste"
trug der Oheim, und
Hosen von grünlich¬
blauer Färbung, etwas
zu kurz, aber von angenehmer Konstruktion, oben zu
eng, unten zu weit. Die Petschafte, welche unter dem
Magen des würdigen Mannes baumelten, waren
eigentlich einer seitenlangen Beschreibung würdig,
und von dem Hut wollen wir deshalb nichts sagen,
weil wir fürchten, dadurch über die Grenzen des
gegebenen Raumes unwiderstehlich hinausgerissen zu
werden.
Um zwölf Uhr sollte das Examen beendet sein, und
von Augenblick zu Augenblick geriet des Oheims
Nervensystem in lebendigere Schwingungen. Er nahm
den Hut ab und wischte sich mit dem Sacktuch die
Stirn; er stülpte ihn wieder auf, schob ihn nach
hinten, schob ihn nach vorn, nach rechts und nach
links. Er nahm die langen Rockschöße unter die
Arme und ließ sie wieder fallen; er schnäuzte sich,
daß nian es drei Straßen weit hörte. Er sing an,
laut mit sich selber zu sprechen, und gestikulierte da¬
bei sehr, Zum hohen Ergötzen sämtlicher Gaffer und
Gafferinnen in den Ladentüren und hinter den
Fenstern der nächsten Umgebung. Die Marktweiber,
denen er den ganzen Morgen über den Weg versperrt
hatte, setzten öfters ihre Eierkörbe, Gemüsekörbe und
Milchkannen nieder, um ihm wenigstens moralisch
seinen Standpunkt zu
verrücken, aber er war
taub für ihre Anzüglich¬
keiten. Er hätte sich
heute selbst von den
Hunden verächtlich be¬
handeln lassen.
Um dreiviertel auf
Zwölf nahm er im näch¬
sten Materialladen den
sechsten Bittern, und es
war die höchste Zeit da¬
zu, denn er fühlte sich so
schwach auf den Füßen,
daß er fast dem Umsin¬
ken nahe war. Von jetzt
an hielt er die Uhr, ein
Familienstück, für wel¬
ches ein Raritätensamm-
lcr viel Geld bezahlt
haben würde, krampfhaft
in der zitternden Hand,
und als die Glocke auf
der Stadtkirche zwölf
schlug, wäre er beinahe
„fertig und kaputt" nach
Haus gegangen, um sich
zu Bett zu legen.-
Fest lehnte jetzt der
Oheim an der Haus¬
wand; er lächelte durch
Tränen. Er fing an, die
Aufmerksamkeit der Poli¬
zei zu erregen, und sie
gab ihm, mütterlich be¬
sorgt, den Rat, nicht län¬
ger zu warten, sondern
nach Haus zu gehen, was zur Folge hatte, daß er sich
nur noch fester an die Wand lehnte und mit mi߬
fälligem Gegrunz, schnaufend und glucksend die Ab¬
sicht aussprach, bis zum Jüngsten Gericht an dieser
Ecke auf „den Jungen" zu warten. Da er bis jetzt
die öffentliche Ruhe noch nicht sehr störte, so zog
sich die Polizei ein wenig zurück, behielt ihn aber
scharf im Auge, bereit, in jedem Augenblick hervor¬
zuspringen und zuzupacken.
Glücklicherweise wachte mit der löblichen Sicher¬
heitsbehörde über dem Meister Niklas auch sein
Schutzengel, oder vielmehr, der kam eben von einem
Privat-Geschäftswege zurück, um seine Wache wieder
anzutreten. Mit Entsetzen erkannte er, wie die
Sachen standen, und seiner Vermittlung war's höchst¬
wahrscheinlich zuzuschreiben, daß nur noch eine kleine
Viertelstunde der Oheim Grünebaum durch eigene
Kraft das Gleichgewicht zu bewahren hatte; — um
dreiviertel auf Eins sank er, fiel er, schlug er dem
bleichen, aufgeregten Neffen in die Arme-
Viktoria! gesiegt hatte Hans Unwirrsch, gesiegt hatte
der Meister Grünebaum. Der eine über die Fragen
der sieben examinierenden Lehrer, der andere über
die sieben Bittern, — Viktoria!" —
“W
Wilhelm Raabe.
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