Full text: 57.1929 (0057)

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Freude machten, und wegen 
deren er mich mit manchem, 
für einen Knaben bedeuten¬ 
den Geldgeschenk belohnte. 
Mein Vater lehrte die 
Schwester in demselben 
Zimmer Italienisch, wo 
ich den Cellarius *) aus¬ 
wendig zu lernen hatte. 
Indem ich nun mit mei¬ 
nem Pensum bald fertig 
war und doch still sitzen 
sollte, horchte ich über das 
Buch weg und faßte das 
Italienische, das mir als 
eine lustige Abweichung 
des Lateinischen auffiel, 
sehr behende." — 
Wir wollen uns heute 
nicht weiter mit des Dich¬ 
ters Kindheit aufhalten, 
sondern überspringen die 
Zeit seines Studiums in 
Leipzig und Straßburg, 
seine Entwicklung in poeti¬ 
scher Hinsicht, seinen Ver¬ 
kehr mit Oser in Leipzig, 
sein Bekanntwerden mtt 
Herder in Straßburg, 
wie auch den Verkehr dort 
mit einem Kreise lebens¬ 
tüchtiger junger Studen¬ 
ten, von denen Lerse, dessen 
Namen er im „Götz" ein 
Denkmal setzte, Lenz und 
Jung-Stilling die bedeu¬ 
tendsten waren. Wir über- 
ehen desgl. die auf seine 
ichterische Entwicklung einflußreiche Liebe zu Frie¬ 
derike Brion in Sesenheim und die Zeit seiner Tätig¬ 
keit beim Reichskammergericht in Wetzlar, sein Be¬ 
kanntwerden mit Charlotte Buff dortselbst, das später 
in dem „Werther" seinen Niederschlag finden sollte, 
und finden ihn wieder als den jungen „Doktor" — 
so nannte man ihn allgemein, obwohl ihm eigent¬ 
lich nur der Titel eines Lizentiaten der Rechte zu¬ 
stand — im väterlichen Hause zu Frankfurt. Dort 
in seinem Arbeitszimmer, dessen Bild wir bringen, 
entstanden neben verschiedenen kleineren Schriften 
die zweite Bearbeitung des „Götz von Berlichingen" 
und der Roman „Die Leiden des jungen Werther". 
Beide Werke kamen im gleichen Jahre heraus. Es 
ist heute kaum noch denkbar, in welcher Weise sie den 
Geist der damaligen gebildeten Welt erregten. War 
der „Götz" der erste geglückte Versuch, eine deutsche 
dramatische Historie nach dem Muster Shakespeares 
zu schaffen, mußte die Darstellung eines aufrechten 
Charakters und einer wogenden, gärenden Zeit all¬ 
emeine Bewunderung erregen, so war der Erfolg 
es „Werther" geradezu grenzenlos, so daß die 
„Werthertracht" eme besondere Mode wurde, und 
daß begeisterte Freunde und erbitterte Feinde ent¬ 
standen, da das Werk dem gesunden wie dem krank¬ 
haften Gefühl und Drang der Zeit gleicherweise Aus- 
*) Latein. Lehrbuch. 
druck gab. Wir wissen, daß 
der Roman einerseits so 
geniale und klar denkende 
Köpfe wie Napoleon derart 
fesselte, daß er ihn ständig 
bei sich hatte, und daß an¬ 
dererseits unklare Schwarm¬ 
geister für ihre Lebens- 
uberdrüssi gleit darin den 
Kronzeugen erblicken woll¬ 
ten. So erschienen denn 
auch eine Fülle von Gegen¬ 
schriften, von denen die 
berüchtigste, aber auch ab¬ 
geschmackteste die von Ni¬ 
colai in Berlin, sich „die 
Freuden des jungen Wer¬ 
ther" nannte. In ihr war 
die Pistole, mit der Wer¬ 
ther Selbstmord verüben 
soll, nur mit Hühnerblut 
geladen; Werther bleibt 
leben und heiratet und 
endet als braver Spießer. 
Eine andere hochinter¬ 
essante Gegenschrift, die 
uns vorliegt, und sich 
„Lottens Geständ¬ 
nisse, in Briefen, an 
eine vertraute Freundin, 
vor und nach Werthers 
Tode geschrieben" *) be¬ 
titelt, stammt angeblich so¬ 
gar aus Amerika, und 
greift in der Vorrede 
„Werthers Leiden" heftig 
an als „ein Buch, welches 
nicht allein den Selbst¬ 
mord in Schutz nimmt, sondern, soweit es des 
Verfassers Talenten nur gelingen wollte, dieses ent¬ 
setzliche Verbrechen rechtfertigt und sogar zur Nach¬ 
ahmung empfiehlt!" — ein Beweis, wie sehr man 
den Dichter mißverstanden hatte. 
Kurz darauf, im Frühjahr 1775, erfolgte das Be¬ 
kanntwerden mit dem Erbprinzen Karl-August von 
Sachsen-Weimar, und, als dieser im September die 
Regierung angetreten, erfolgte die förmliche Ein¬ 
ladung an den Weimarer Hof. Am 7. November 1775 
traf Goethe in der Residenz an der Ilm zu einem 
„Besuche" ein, um sie nie mehr zu verlassen. 
Wir wollen auch hier Allbekanntes übergehen und 
uns dafür lieber mit einigen anderen Punkten be¬ 
schäftigen: Goethes Bedeutung für die Entwicklung 
der deutschen Bühne, Goethe als Zeichner und 
als Beobachter, Goethe als Kenner fremder 
Welten. 
Unser heutiges Theater ist bekanntlich aus herum¬ 
ziehenden Wandertruppen, die sich ihrerseits aus 
Possenreißern und Gauklern herauskristallisiert hat¬ 
ten, entstanden. Erst aus dem Seßhaftwerden dieser 
Truppen, aus dem Abschluß fester Besoldungsver¬ 
träge, entstand die heute übliche Form unseres 
Bühnenbetriebs, die nun erst allgemein gute 
*) „Aus dem Englischen, nach der fünften amertk. Ausgabe Trier 
1825 bei F. A. Gall, gedruckt bei B. Heriot, Koblenz am Paraden¬ 
platz". 
Goethes Großmutter, 
die Gattin des Stadtschultheißen Textor.
	        
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