Full text: 56.1928 (0056)

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Und das Kind blieb unbeweglich einige Schritte von 
seinem Vater entfernt stehen und schluchzte. 
Giuseppe trat näher. Sie hatte eben die Uhrkette 
bemerkt, deren eines Ende aus dem Hemd Fortu¬ 
natos hervorsah. 
„Wer hat dir die Uhr gegeben?" fragte sie in 
strengem Ton. 
„Mein Vetter, der Adjutant." 
Mateo ergriff die Uhr und warf sie mit solcher 
Wucht gegen einen Stein, daß sie in tausend Stücke 
zersprang. 
„Frau", sagte er, „ist dieses Kind von mir?" 
Die braunen Wangen der Giuseppa wurden ziegel¬ 
rot. 
„Was sagst du da, Mateo, und weißt du auch, zu 
wem du sprichst?" 
„Wohl? So ist also das Kind hier der erste seines 
Geschlechts, der einen Verrat begangen." 
Das Schluchzen und die Seufzer Fortunatos ver¬ 
mehrten sich, und Mateo hielt seine Luchsaugen fort¬ 
während auf ihn gerichtet. Schließlich stieß er den 
Kolben seines Gewehres zu Boden, dann nahm er 
es auf die Schulter und schlug wieder den Weg zum 
Maquis ein, indem er dem Fortunato zuschrie, er 
solle ihm folgen. Das Kind gehorchre. 
Giuseppa lief zu Mateo hin und faßte ihn am 
Arm. „Es ist dein Sohn", sagte sie zu ihm mit 
zitternder Stimme, indem sie ihre schwarzen Augen 
auf diejenigen ihres Gatten heftete, als ob sie in 
seiner Seele lesen wollte. 
„Laß mich", antwortete Mateo, „ich bin sein 
Vater." 
Giuseppa umarmte ihren Sohn und trat weinend 
in das Haus. Sie warf sich vor einem Bild der 
Jungfrau zu Boden und betete mit Inbrunst. In¬ 
zwischen schritt Mateo einige zweihundert Schritte 
auf dem Pfade weiter und hielt erst vor einer kleinen 
Schlucht, in die er hinabstieg. Er prüfte die Erde 
mit dem Kolben seines Gewehres und fand sie weich 
und leicht zum Aushebern Der Ort erschien ihm 
passend für seine Absicht. 
„Fortunato, tritt neben diesen großen Stein." 
Das Kind tat, was er ihm befahl, worauf es 
niederkniete. 
„Sag' deine Gebete." 
„Vater, Vater, töte mich nicht!" 
„Sag' deine Gebete her!" wiederholte Mateo mit 
schrecklicher Stimme. 
Das Kind sagte stammelnd und schluchzend das 
Pater und das Credo. Der Vater antwortete mit 
lauter Stimme Amen! am Schluß jedes Gebetes. 
„Sind das alle Gebete, die du kannst?" 
„Vater, ich kann noch das Ave Maria und die Li¬ 
tanei, die meine Tante mich gelehrt hat." 
„Recht lang, aber meinetwegen." 
Das Kind vollendete die Litanei mit ersterbender 
Stimme. 
„Bist du fertig?" 
„O! Vater, Erbarmen! Verzeih' mir! Ich will's 
nicht wieder tun! Ich will so lang' meinen Vetter, 
den Korporal, bitten, bis man den Gianetto be¬ 
gnadigen wird!" 
Es sprach noch weiter; Mateo aber hatte sein 
Gewehr bereit gemacht und legte an, indem er sagte: 
„Gott möge dir verzeihen!" Das Kind machte eine 
verzweifelte Bemühung, aufzustehen und die Knie 
seines Vaters zu umfassen; aber es hatte keine Zeit 
mehr dazu. Mateo gab Feuer, und Fortunato fiel 
sofort tot nieder. 
Ohne einen Blick auf den Leichnam zu werfen, 
schlug Mateo wieder den Weg nach Hause ein, um 
eine Schaufel zum Eingraben seines Sohnes zu holen. 
Er hatte kaum einige Schritte gemacht, als er Giu¬ 
seppa traf, die, durch den Schuß aufgeschreckt, herbei¬ 
gelaufen kam. 
„Was hast du getan?" schrie sie. 
„Gerechtigkeit geübt." 
„Wo ist er?" 
„In der Schlucht. Ich werde ihn dort begraben. 
Er ist als ein Christ gestorben; ich will ihm eine 
Messe lesen lassen. Sag meinem Schwiegersohn Tio- 
doro Bianchi, er soll bei uns wohnen." 
Leben. 
'Hm Atemholen sind zweierlei Gnaden: 
^ Die Lust einziehen, sich ihrer entladen; 
Jenes bedrängt, dieses erfrischt. 
So wunderbar ist das Leben gemischt. 
Du danke Gott, wenn er dich preßt, 
Und dank' ihm, wenn er dich wieder entläßt! 
Goethe 
Westöstlicher Divan.
	        
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