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Und das Kind blieb unbeweglich einige Schritte von
seinem Vater entfernt stehen und schluchzte.
Giuseppe trat näher. Sie hatte eben die Uhrkette
bemerkt, deren eines Ende aus dem Hemd Fortu¬
natos hervorsah.
„Wer hat dir die Uhr gegeben?" fragte sie in
strengem Ton.
„Mein Vetter, der Adjutant."
Mateo ergriff die Uhr und warf sie mit solcher
Wucht gegen einen Stein, daß sie in tausend Stücke
zersprang.
„Frau", sagte er, „ist dieses Kind von mir?"
Die braunen Wangen der Giuseppa wurden ziegel¬
rot.
„Was sagst du da, Mateo, und weißt du auch, zu
wem du sprichst?"
„Wohl? So ist also das Kind hier der erste seines
Geschlechts, der einen Verrat begangen."
Das Schluchzen und die Seufzer Fortunatos ver¬
mehrten sich, und Mateo hielt seine Luchsaugen fort¬
während auf ihn gerichtet. Schließlich stieß er den
Kolben seines Gewehres zu Boden, dann nahm er
es auf die Schulter und schlug wieder den Weg zum
Maquis ein, indem er dem Fortunato zuschrie, er
solle ihm folgen. Das Kind gehorchre.
Giuseppa lief zu Mateo hin und faßte ihn am
Arm. „Es ist dein Sohn", sagte sie zu ihm mit
zitternder Stimme, indem sie ihre schwarzen Augen
auf diejenigen ihres Gatten heftete, als ob sie in
seiner Seele lesen wollte.
„Laß mich", antwortete Mateo, „ich bin sein
Vater."
Giuseppa umarmte ihren Sohn und trat weinend
in das Haus. Sie warf sich vor einem Bild der
Jungfrau zu Boden und betete mit Inbrunst. In¬
zwischen schritt Mateo einige zweihundert Schritte
auf dem Pfade weiter und hielt erst vor einer kleinen
Schlucht, in die er hinabstieg. Er prüfte die Erde
mit dem Kolben seines Gewehres und fand sie weich
und leicht zum Aushebern Der Ort erschien ihm
passend für seine Absicht.
„Fortunato, tritt neben diesen großen Stein."
Das Kind tat, was er ihm befahl, worauf es
niederkniete.
„Sag' deine Gebete."
„Vater, Vater, töte mich nicht!"
„Sag' deine Gebete her!" wiederholte Mateo mit
schrecklicher Stimme.
Das Kind sagte stammelnd und schluchzend das
Pater und das Credo. Der Vater antwortete mit
lauter Stimme Amen! am Schluß jedes Gebetes.
„Sind das alle Gebete, die du kannst?"
„Vater, ich kann noch das Ave Maria und die Li¬
tanei, die meine Tante mich gelehrt hat."
„Recht lang, aber meinetwegen."
Das Kind vollendete die Litanei mit ersterbender
Stimme.
„Bist du fertig?"
„O! Vater, Erbarmen! Verzeih' mir! Ich will's
nicht wieder tun! Ich will so lang' meinen Vetter,
den Korporal, bitten, bis man den Gianetto be¬
gnadigen wird!"
Es sprach noch weiter; Mateo aber hatte sein
Gewehr bereit gemacht und legte an, indem er sagte:
„Gott möge dir verzeihen!" Das Kind machte eine
verzweifelte Bemühung, aufzustehen und die Knie
seines Vaters zu umfassen; aber es hatte keine Zeit
mehr dazu. Mateo gab Feuer, und Fortunato fiel
sofort tot nieder.
Ohne einen Blick auf den Leichnam zu werfen,
schlug Mateo wieder den Weg nach Hause ein, um
eine Schaufel zum Eingraben seines Sohnes zu holen.
Er hatte kaum einige Schritte gemacht, als er Giu¬
seppa traf, die, durch den Schuß aufgeschreckt, herbei¬
gelaufen kam.
„Was hast du getan?" schrie sie.
„Gerechtigkeit geübt."
„Wo ist er?"
„In der Schlucht. Ich werde ihn dort begraben.
Er ist als ein Christ gestorben; ich will ihm eine
Messe lesen lassen. Sag meinem Schwiegersohn Tio-
doro Bianchi, er soll bei uns wohnen."
Leben.
'Hm Atemholen sind zweierlei Gnaden:
^ Die Lust einziehen, sich ihrer entladen;
Jenes bedrängt, dieses erfrischt.
So wunderbar ist das Leben gemischt.
Du danke Gott, wenn er dich preßt,
Und dank' ihm, wenn er dich wieder entläßt!
Goethe
Westöstlicher Divan.