Full text: 53.1925 (0053)

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Schlosses. Unh was ich Euch da erzähle, ist 
durchaus nicht erfunden; zweimalhunderttausend 
Provencalen haben es gesehen. 
Nachdem es während einer vollen Stunde im 
Finstern umhergetappt und wer weiß wieviel 
Stufen einer Wendeltreppe hinaufgeklettert war, 
muß man sich den Schrecken des unglücklichen 
Maultieres vorstellen, als es plötzlich auf einer 
Plattform vom hellsten Sonnenlicht geblendet 
wurde und tausend Fuß unter sich ganz Avignon 
erblickte, das ihm arg phantastisch erschien mit 
feinen nußgroßen Buden auf dem Marktplatz, den 
Soldaten des Papstes vor ihrer Kaserne, wie rote 
Ameisen anzuschauen, und dort unten auf einem 
Silberfaden eine mikroskopisch kleine Brücke, wo 
man tanzte... Ach, du armes Tier! wie entsetzte es 
sich! Von dem Schrei, den es darüber ausstieß, 
erzitterten alle Fenster des Schlosses. 
— Was gibt es, was hat man ihm getan? rief 
der gute Papst, auf den Balkon hinausstürzend. 
Tistet Vedene war schon wieder aus dem Hofe, 
machte ein weinerliches Gesicht und raufte sich die 
Haare: 
— Ach, Hoher Heiliger Vater, was es gibt? 
Euer Maultier... Mein Gott! was soll nun wer¬ 
den?... Euer Maultier ist ja auf den Glockenturm 
gestiegen... 
— Ganz allein??? 
— Fa, Hoher Heiliger Vater, ganz allein... dort! 
seht nur da oben... Seht Ihr nicht die Spitzen 
seiner Ohren hervorleuchten?... Man könnte 
meinen, es wären zwei Schwalben... 
— Daß Gott erbarm! rief der arme Papst, den 
Blick nach oben wendend... Aber, ist es denn toll 
geworden? Willst du gleich herunterkommen, du 
unglückliches Tier! 
Weiß der Himmel! es wäre schon gerne hinab¬ 
gestiegen... aber wie? Auf der Treppe? daran war 
garnicht zu denken; die kann man wohl gerade 
noch hinaufsteigen, aber beim Hinabsteigen könnte 
man sich hundertmal die Beine brechen... und das 
arme Maultier geriet in Verzweiflung. Es ließ 
feine großen, durch den Schwindel getrübten Augen 
auf der Plattform umherschweifen und dabei 
dachte es an Tistet Vedene: — Oh, du Bandit! 
wenn ich wieder hinunterkomme, was sollst du 
morgen für einen Fußtritt haben! 
Dieser Gedanke an den Hufschlag, den es ver¬ 
abfolgen wollte, gab ihm selbst wieder ein wenig 
Mut; sonst hätte es sich nicht mehr aufrecht halten 
können... Endlich kam man dazu, es herunter¬ 
zuholen; aber man hatte allerlei Mühe damit. 
Mit einer Winde, mit Stricken und mit einer 
Tragbahre ging das Herablassen vor sich. Und 
man kann sich denken, was das für eine Demüti¬ 
gung für das Maultier eines Papstes war, als es 
in dieser Höhe baumelte und mit den Füßen in 
der Luft strampelte, wie ein an einem Faden 
hängender Maikäfer. Und ganz Avignon sah 
dabei zu! 
Das unglückliche Tier schlief deshalb die ganze 
Nacht nicht. Es war ihm immer zumute, als ob 
es sich unter dem Gelächter der ganzen Stadt auf 
dieser verdammten Plattform herumbewegte. 
Dann dachte es auch an diesen schändlichen Tistet 
Vedene und an den famosen Fußtritt, den es ihm 
am nächsten Morgen verabfolgen wollte. Oh, 
meine Freunde, das sollte ein Fußtritt werden! 
In Pamperigouste würde man noch den Rauch 
sehen können... Nun, was glaubt Ihr, was Tistet 
Vedene tat, während ihm dieser schöne Empfang 
im Stalle zugedacht war? Er fuhr singend in 
einer päpstlichen Galeere die Rhone hinunter und 
begab sich mit einer Schar junger Adeliger, die die 
Stadt jedes Jahr zur Königin Johanna schickte, 
um sich in der Diplomatie und der guten Lebens¬ 
art auszubilden, nach Neapel. Tistet war nicht 
adelig: aber der Papst wünschte, ihn für die sorg¬ 
same Wartung, die er seinem Tiere hatte ange¬ 
deihen lassen und besonders für den Eifer, den 
er kurz vorher am Rettungstage entfaltet hatte, zu 
belohnen. 
So sah also unser Maultier am nächsten Mor¬ 
gen, daß ein Strich durch seine Rechnung ge¬ 
macht war. 
— Ah, der Bandit! er hat etwas geahnt!... 
dachte es und schüttelte wütend seine Schellchen... 
aber das Macht nichts; geh, Elender! Du wirst ihn 
schon noch bekommen, deinen Fußtritt... Ich hebe 
dir ihn auf... 
Nach Tistets Abreise war für das Maultier des 
Papstes alles wieder beim alten; es halle sein 
ruhiges Leben und Treiben wieder wie früher. 
Kein Quinquet, kein Beluguet war mehr im 
Stalle zu sehen. Die schönen Tage mit gewürztem 
4*
	        
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