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sprochene Bewegung der weltlichen Gesellschaft zur 
Zeit der großen kommunalen Freiheitsbewegung, die 
dem französischen Volke einen starken Lebensimpuls 
einflößte. 
Die ungewöhnliche Begeisterung, verbunden mit 
dem tiefreligiösen Sinn der Bevölkerung und dem 
Wetteifer der Gemeinden untereinander erklärt leicht 
die unverhofft rasche Blütezeit und den vollständigen 
Sieg einer Kunstrichtung, die an sich selbst als eine 
Revolution erschien. Ihre endgültige Norm und den 
Höhepunkt der künstlerischen Ausbildung fand die 
neue Kunst im Bau der Kathedralen. 
Die Kathedrale hat die Form eines lateinischen 
Kreuzes; der eine Arm wird durch die Schiffe und 
das Chor und der andere durch das Querschiff darge¬ 
stellt. Im Schnittpunkt der beiden Arme, in der so¬ 
genannten Vierung, erhebt sich ein Glockentürmchen 
als Dachreiter, während die großen Türme der 
Fassade vorbehalten sind. 
Das Gewölbe im Innern macht auf den Beschauer 
einen mächtigen Eindruck; seine Höhe schwankt zwi¬ 
schen 38 und 56 Metern. Die Anzahl der Schifte ist 
bald 3, bald 5. Um 
das Chor läuft ein 
halbkreisförmiger 
Wandelgang — 
déambulatoire, 
Chorumgang, — von 
dem aus eine große 
Anzahl kleiner Ka¬ 
pellen zugänglich 
sind, die durch das 
Einspringen der 
Strebepfeiler in das 
Innere des Gebäu¬ 
des gebildet werden. 
Zur inneren Aus¬ 
schmückung dienen 
die Kirchen fenster 
und die Bildhauer¬ 
arbeiten. 
Die Kirchenfenster 
stellen wahre Ge¬ 
mälde dar, die sich 
der Wirkung des 
Baustiles anpassen, 
und die mit beson¬ 
derer Überlegung 
angeordnet sind. 
Die Glasmalerei 
des zentralen Cho¬ 
res war immer dem 
Sohne Gottes ge¬ 
widmet, während die 
unteren Seiten¬ 
fenster das Leben 
der Heiligen oder 
Gleichnisse aus dem 
Evangelium dar¬ 
stellten. In den 
Chorkapellen be¬ 
zogen sich die Bil¬ 
der auf das Leben 
der Heiligen Jung- 
ftau und bei den ' 
oberen Chorfenstern 
Kathedrale ;u Amiens. Innenansicht. 
auf die Apostel. Die Darstellung der Patriarchen, der 
Könige und der Propheten fand rhren Platz in den 
hohen Fenstern im Mittelschiff. Die Töne der Fenster 
waren etwas primitiv in starken und satten Farben 
gehalten, die vom 14. <sayrhunder1 ab zarter er¬ 
schienen. Zu dieser Zeit kamen auch die grautönigen 
Gemälde (grisailles) auf; die Figuren erhielten 
natürliche Größe, anstatt der anfänglichen kleinen 
Darstellungen, die mittels zahlreicher Abteilungen in 
Bleiverglasung hergestellt waren. 
Die Plastik war ebenfalls durch genaue Regeln fest¬ 
gelegt: im oberen Teil des Hauptportals ist gewöhn¬ 
lich das Jüngste Gericht dargestellt, während im 
romanischen Stile an dieser Stelle das verbreitetste 
Vorbild Christus im Glorienschein, umgeben von 
4 Tiergestalten, war, die die 4 Evangelien andeuten 
sollten. An den Seitenportalen schmücken Bilder aus 
der Lebensgeschichte der Heiligen Jungfrau diese 
Stelle, ferner fand hier die Darstellung der Tugenden 
und der Laster ihren Platz. Gewöhnlich findet man 
auf den Sockeln der Portale das Zeichen des Tier¬ 
kreises und auf den Rundungen der Portalbogen die 
Engel und die 
himmlische Hier¬ 
archie abgebildet. 
Am Ende der Ba¬ 
lustraden, auf den 
Turmspitzen und an 
den Wasserspeiern 
sind schließlich noch 
groteske Tiergestal¬ 
ten als Schmuck an¬ 
gebracht. 
Wenn schon die 
gotischen Kathedra¬ 
len im 12. Jahr¬ 
hundert begonnen 
wurden, so geschah 
ihre Vollendung 
doch erst im 13., 14 
und 15. Jahrhun¬ 
dert und jedes dieser 
Jahrhunderte hat 
ihnen sein Merkmal 
aufgeprägt, das dte 
Bestimmung der 
Bauzeit sehr erleich¬ 
tert. 
Das bequemste 
Mittel hierzu bieten 
die Fenster. Im 
12. Jahrhundert 
sind die Fenster ohne 
ornamentalen 
Schmuck in schmalen 
Streifen gearbeitet 
(Beispiele: Chartres, 
Mantes, Dijon). Im 
13. Jahrhundert 
wird jedes Fenster 
in 2 Schmalstücke 
aufgeteilt, die von 
einem einzigen 
Kreis gekrönt wer¬ 
den (Beispiele: Sois- 
sons und Amiens).
	        
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