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heranzieht: die gotische
Baukonstruktion verhält sich
Zur romanischen, wie die
moderne Eisenkonstruktion
mit Steinausfüllung zum
gewöhnlich angewendeten
Steinbau. In der gotischen
Bauart bestehen das Ge¬
rippe und die Ausfüllungs¬
masse beide aus Stein —
das Prinzip ist also genau
dasselbe; der ganze Druck
wirkt nur auf das Gerippe.
Dieses Prinzip führt zu
zahlreichen Folgerungen.
Da das Gewölbe aus un¬
abhängigen Bestandteilen
besieht, die durch ihr eige¬
nes Rippensystem getragen
werden, sind die Druckwir¬
kungen auf ganz bestimmte
Punkte, nämlich die Pfeiler
und die Säulen konzen¬
triert. Die Mauern sind
daher nebensächlich, wes¬
halb man sie beliebig
durchbrechen kann, wie es
auch möglich ist, die Fenster
und Rosetten in vielfacher
Anzahl anzubringen. Das
Innere des Bauwerks ver¬
ändert dadurch gänzlich sein
Aussehen. An die Stelle
der düsteren romanischen
Architektur mit dicken
Mauern und starken Stütz¬
pfeilern sieht man beim
gotischen Stil himmelan¬
strebende, zierliche Kon¬
struktionen von bisher un¬
bekannter Höhe, während
das Innere von Licht-
wellen überflutet ist.
Eine weitere Folge der
Anwendung der Gurt-
Kathedrale
z»
Amiens.
gewölbe ist die Übertra¬
gung der Druckwirkung des
Langhausgewölbes auf die
Seitenteile mittels der
Schwibbogen, einer Art
kleiner steinerner Brücken,
wie man sie z. B. aus
unserer Abbildung von
Notre Dame zu Paris er¬
kennen kann.
Diese Schwibbogen ver¬
zierte man mit Türmchen,
Zinnen und Wasserspeiern.
Wie man hieraus ersieht,
war der so reiche und man¬
nigfaltige Schmuck der go¬
tischen Bauwerke aus der
Konstruktion selbst heraus
geboren und auch notwen¬
dig für die Festigkeit;
keineswegs bedeutete er
nur ein überflüssiges deko¬
ratives Anhängsel.
Zweifellos sollten diese
für das Gebäude unerlä߬
lichen Konstruktionsteile
für den Beschauer eine
Augenweide "sein; aber
diese Verzierung hat nur
ganz einfache, der Natur
entnommene Elemente ver¬
wendet. Die Kapitäle der
Säulen z. B. sind meistens
Variationen der lokalen
Flora, während man beim
romanischen Stil sich in
Nachahmung des Alter¬
tums und der Kunst des
Orients erschöpfte.
Wenn der romanische
Stil eine ausschließlich
religiöse Kunstrichtung
darstellte, so bedeutete an¬
derseits der gotische Bau¬
stil eine scharf ausge-
Seiten-
anficht.
Querdurchschnitt der Kathedrale
von Amiens.
a. Strebepfeiler;
b. Fialen;
c. Schwibbogen (Strebebogen);
d. Jnnenpfeiler;
e. Gewölbe.