Full text: 53.1925 (0053)

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heranzieht: die gotische 
Baukonstruktion verhält sich 
Zur romanischen, wie die 
moderne Eisenkonstruktion 
mit Steinausfüllung zum 
gewöhnlich angewendeten 
Steinbau. In der gotischen 
Bauart bestehen das Ge¬ 
rippe und die Ausfüllungs¬ 
masse beide aus Stein — 
das Prinzip ist also genau 
dasselbe; der ganze Druck 
wirkt nur auf das Gerippe. 
Dieses Prinzip führt zu 
zahlreichen Folgerungen. 
Da das Gewölbe aus un¬ 
abhängigen Bestandteilen 
besieht, die durch ihr eige¬ 
nes Rippensystem getragen 
werden, sind die Druckwir¬ 
kungen auf ganz bestimmte 
Punkte, nämlich die Pfeiler 
und die Säulen konzen¬ 
triert. Die Mauern sind 
daher nebensächlich, wes¬ 
halb man sie beliebig 
durchbrechen kann, wie es 
auch möglich ist, die Fenster 
und Rosetten in vielfacher 
Anzahl anzubringen. Das 
Innere des Bauwerks ver¬ 
ändert dadurch gänzlich sein 
Aussehen. An die Stelle 
der düsteren romanischen 
Architektur mit dicken 
Mauern und starken Stütz¬ 
pfeilern sieht man beim 
gotischen Stil himmelan¬ 
strebende, zierliche Kon¬ 
struktionen von bisher un¬ 
bekannter Höhe, während 
das Innere von Licht- 
wellen überflutet ist. 
Eine weitere Folge der 
Anwendung der Gurt- 
Kathedrale 
z» 
Amiens. 
gewölbe ist die Übertra¬ 
gung der Druckwirkung des 
Langhausgewölbes auf die 
Seitenteile mittels der 
Schwibbogen, einer Art 
kleiner steinerner Brücken, 
wie man sie z. B. aus 
unserer Abbildung von 
Notre Dame zu Paris er¬ 
kennen kann. 
Diese Schwibbogen ver¬ 
zierte man mit Türmchen, 
Zinnen und Wasserspeiern. 
Wie man hieraus ersieht, 
war der so reiche und man¬ 
nigfaltige Schmuck der go¬ 
tischen Bauwerke aus der 
Konstruktion selbst heraus 
geboren und auch notwen¬ 
dig für die Festigkeit; 
keineswegs bedeutete er 
nur ein überflüssiges deko¬ 
ratives Anhängsel. 
Zweifellos sollten diese 
für das Gebäude unerlä߬ 
lichen Konstruktionsteile 
für den Beschauer eine 
Augenweide "sein; aber 
diese Verzierung hat nur 
ganz einfache, der Natur 
entnommene Elemente ver¬ 
wendet. Die Kapitäle der 
Säulen z. B. sind meistens 
Variationen der lokalen 
Flora, während man beim 
romanischen Stil sich in 
Nachahmung des Alter¬ 
tums und der Kunst des 
Orients erschöpfte. 
Wenn der romanische 
Stil eine ausschließlich 
religiöse Kunstrichtung 
darstellte, so bedeutete an¬ 
derseits der gotische Bau¬ 
stil eine scharf ausge- 
Seiten- 
anficht. 
Querdurchschnitt der Kathedrale 
von Amiens. 
a. Strebepfeiler; 
b. Fialen; 
c. Schwibbogen (Strebebogen); 
d. Jnnenpfeiler; 
e. Gewölbe.
	        
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