Full text: 43.1915 (0043)

mm D>eöenkjahr 1915. 
ns Jahr \9\5 schließt mit einem mäch¬ 
tigen Akkord die lauge Reihe der Er¬ 
innerungen an die große Zeit, da vor 
hundert Zähren sich unsere Räter erhoben 
zum Befreiungskämpfe von langem, schier 
unerträglichem Zoche. Für unsere Provinz, 
die schönen Rheinlande, brachte es politische 
Veränderungen von besonders einschneidender 
Bedeutung. Alle westrheinischen Gebiete, die 
trotz ihrer deutschredenden und deutschdenkenden 
Bevölkerung jahrelang bei Frankreich waren, 
fielen nach den Bestimmungen des Wiener 
Kongresses an Preußen, und diese Tatsache 
brachte eine ungeheure Menge von politi¬ 
schen und sozialen Veränderungen mii sich. 
Freilich, die Umwandlung der alten durch die 
französische Wirtschaft etwas locker gewordenen 
Verhältnisse in die strammen Formen des 
preußischen Wesens ging nicht so glatt ab, wie 
man gedacht hatte. Große und unerwartete 
Schwierigkeiten hatten sich besonders bei der 
Neugestaltung der Rechtspflege am Rhein er¬ 
geben. Zn den ersten Zeiten des Siegesrausches 
war die Abschaffung des Tode Napoleon von 
allen Patrioten, auch von den deutschgesinnten 
Rheinländern selbst, als ein unabweisbares 
Gebot der nationalen Ehre betrachtet worden; 
alle Welt hatte dem berühmten Staatsrechts¬ 
lehrer Savign-y zugestimmt, als er die 5 Todes 
eine „überstandene politische Krankheit" nannte. 
Aber bald war die Stimmung im Lande um- 
geschlagen. Der s)rovi,izialgeist war wieder 
erwacht und begann alle bestehenden, alle 
berechtigten Eigentümlichkeiten der Heimat zu 
verherrlichen. Der Tode war das Rheinische 
Recht und darum schon vortrefflich. Als nun 
König Friedrich Wilhelm III. zur gerechten 
Schlichtung des erwachten Streites alle Sach¬ 
verständigen zur Erstattung von Gutachten 
auffordern ließ, da konnte man die eigentümliche 
Tatsache beobachten, daß sich die überwiegende 
Mehrheit für die Beibehaltung des Todes 
ausfpracb. 
Die befürchteten Schwierigkeiten wurden 
dadurch wesentlich gehoben, daß mit der vor¬ 
läufigen Drganisation der rheinischen Gerichte 
der Präsident Sethe beauftragt wurde, ein 
treuer preußischer Patriot, der aber auch in 
dem ehemals bergischen Staatsdienste das 
französische Recht gründlich kennen gelernt 
hatte und sich seiner Aufgabe nun mit großer 
Einsicht und Unparteilichkeit erledigte. So sehr 
er selbst die Rechtseinheit für den gesamten 
Staat wünschte, sah er doch, daß dieses Ziel 
vorläufig nicht erreichbar war. Schließlich 
einigte sich die eingesetzte Kommission dahin, 
daß sie dem preußischen Könige empfahl, das 
rheinische Recht vorläufig, bis zur Revision 
der preußischen Gesetzbücher, aufrecht zu er¬ 
halten. 
Unter der verständigen Fürsorge der preu¬ 
ßischen Verwaltung nahm die stille Werbetätig¬ 
keit, die Rheinlande, die solange unter fremdem 
Einfluß gestanden, dem deutschen Leben 
zurückzugewinnen, einen erfreulichen Fortgang. 
Friedrich Wilhelm III. hatte bei der Besitz¬ 
ergreifung der Westmark offen erklärt: „Diese 
deutschen Urländer müssen mit Deutsch¬ 
land vereinigt bleiben; sie sind die Vor¬ 
mauer der Freiheit und Unabhängigkeit 
Deutschlands." Und wenn die Gegner 
Preußens auf dem Wiener Kongreß die 
hämische Hoffnung ausgesprochen hatten, an 
dem deutsch-französischen Sonderleben dieser 
Lande werde sich der Norddeutsche Staat die 
Stirn einrennen, so sah die Mehrzahl der in 
den Westen berufenen altpreußischen Beamten 
bald mit stiller Befriedigung, daß ihre Be¬ 
sorgnisse ungerechtfertigt waren, und daß der 
gallische Firnis, der anfänglich noch über diesen 
kernhaften deutschen Stämmen lag, nur ein 
sehr dünner war. Wer die leicht erregbaren, 
bildsamen, für alles Fremde empfänglichen 
Rheinfranken so gründlich kannte, wie der 
alte treue Ernst Moritz Arndt, der zweifelte 
schon jetzt nicht mehr daran, daß diesem Volke 
die Berührung mit dem scharfen, altpreußischen 
Wesen nur förderlich sein mußte. War es 
auch nicht bequem, diese oder jene liebgewordene 
Meinung aufzugeben, so erzwang doch die 
makellose Rechtschaffenheit der Beamten trotz 
vereinzelter Mißgriffe nach und nach die Achtung 
des Volkes. Unter vier Augen hörte man 
schon zuweilen das halb noch widerwillige 
Geständnis: „Herb ist derjDreuß, aber gerecht." 
Und für die Gerechtigkeit einer Regierung hat 
das Volksgemüt immer ein feines Verständnis. 
Bald zeigten sich die Segnungen des 
neuen Regiments auf allen Gebieten. Un¬ 
hemmbar flutete der Strom deutscher Bildung 
wieder über das befreite Grenzland hin. Bis 
vor kurzem war das gesamte Rheinland, selbst
	        
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