mm D>eöenkjahr 1915.
ns Jahr \9\5 schließt mit einem mäch¬
tigen Akkord die lauge Reihe der Er¬
innerungen an die große Zeit, da vor
hundert Zähren sich unsere Räter erhoben
zum Befreiungskämpfe von langem, schier
unerträglichem Zoche. Für unsere Provinz,
die schönen Rheinlande, brachte es politische
Veränderungen von besonders einschneidender
Bedeutung. Alle westrheinischen Gebiete, die
trotz ihrer deutschredenden und deutschdenkenden
Bevölkerung jahrelang bei Frankreich waren,
fielen nach den Bestimmungen des Wiener
Kongresses an Preußen, und diese Tatsache
brachte eine ungeheure Menge von politi¬
schen und sozialen Veränderungen mii sich.
Freilich, die Umwandlung der alten durch die
französische Wirtschaft etwas locker gewordenen
Verhältnisse in die strammen Formen des
preußischen Wesens ging nicht so glatt ab, wie
man gedacht hatte. Große und unerwartete
Schwierigkeiten hatten sich besonders bei der
Neugestaltung der Rechtspflege am Rhein er¬
geben. Zn den ersten Zeiten des Siegesrausches
war die Abschaffung des Tode Napoleon von
allen Patrioten, auch von den deutschgesinnten
Rheinländern selbst, als ein unabweisbares
Gebot der nationalen Ehre betrachtet worden;
alle Welt hatte dem berühmten Staatsrechts¬
lehrer Savign-y zugestimmt, als er die 5 Todes
eine „überstandene politische Krankheit" nannte.
Aber bald war die Stimmung im Lande um-
geschlagen. Der s)rovi,izialgeist war wieder
erwacht und begann alle bestehenden, alle
berechtigten Eigentümlichkeiten der Heimat zu
verherrlichen. Der Tode war das Rheinische
Recht und darum schon vortrefflich. Als nun
König Friedrich Wilhelm III. zur gerechten
Schlichtung des erwachten Streites alle Sach¬
verständigen zur Erstattung von Gutachten
auffordern ließ, da konnte man die eigentümliche
Tatsache beobachten, daß sich die überwiegende
Mehrheit für die Beibehaltung des Todes
ausfpracb.
Die befürchteten Schwierigkeiten wurden
dadurch wesentlich gehoben, daß mit der vor¬
läufigen Drganisation der rheinischen Gerichte
der Präsident Sethe beauftragt wurde, ein
treuer preußischer Patriot, der aber auch in
dem ehemals bergischen Staatsdienste das
französische Recht gründlich kennen gelernt
hatte und sich seiner Aufgabe nun mit großer
Einsicht und Unparteilichkeit erledigte. So sehr
er selbst die Rechtseinheit für den gesamten
Staat wünschte, sah er doch, daß dieses Ziel
vorläufig nicht erreichbar war. Schließlich
einigte sich die eingesetzte Kommission dahin,
daß sie dem preußischen Könige empfahl, das
rheinische Recht vorläufig, bis zur Revision
der preußischen Gesetzbücher, aufrecht zu er¬
halten.
Unter der verständigen Fürsorge der preu¬
ßischen Verwaltung nahm die stille Werbetätig¬
keit, die Rheinlande, die solange unter fremdem
Einfluß gestanden, dem deutschen Leben
zurückzugewinnen, einen erfreulichen Fortgang.
Friedrich Wilhelm III. hatte bei der Besitz¬
ergreifung der Westmark offen erklärt: „Diese
deutschen Urländer müssen mit Deutsch¬
land vereinigt bleiben; sie sind die Vor¬
mauer der Freiheit und Unabhängigkeit
Deutschlands." Und wenn die Gegner
Preußens auf dem Wiener Kongreß die
hämische Hoffnung ausgesprochen hatten, an
dem deutsch-französischen Sonderleben dieser
Lande werde sich der Norddeutsche Staat die
Stirn einrennen, so sah die Mehrzahl der in
den Westen berufenen altpreußischen Beamten
bald mit stiller Befriedigung, daß ihre Be¬
sorgnisse ungerechtfertigt waren, und daß der
gallische Firnis, der anfänglich noch über diesen
kernhaften deutschen Stämmen lag, nur ein
sehr dünner war. Wer die leicht erregbaren,
bildsamen, für alles Fremde empfänglichen
Rheinfranken so gründlich kannte, wie der
alte treue Ernst Moritz Arndt, der zweifelte
schon jetzt nicht mehr daran, daß diesem Volke
die Berührung mit dem scharfen, altpreußischen
Wesen nur förderlich sein mußte. War es
auch nicht bequem, diese oder jene liebgewordene
Meinung aufzugeben, so erzwang doch die
makellose Rechtschaffenheit der Beamten trotz
vereinzelter Mißgriffe nach und nach die Achtung
des Volkes. Unter vier Augen hörte man
schon zuweilen das halb noch widerwillige
Geständnis: „Herb ist derjDreuß, aber gerecht."
Und für die Gerechtigkeit einer Regierung hat
das Volksgemüt immer ein feines Verständnis.
Bald zeigten sich die Segnungen des
neuen Regiments auf allen Gebieten. Un¬
hemmbar flutete der Strom deutscher Bildung
wieder über das befreite Grenzland hin. Bis
vor kurzem war das gesamte Rheinland, selbst