Full text: 20.1892 (0020)

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Sanssouci war, wie alles Andere, noch unberührt 
geblieben von dem Kalenderfrühling, war starr und 
tot, und deshalb hatte es sein königlicher Herr vor¬ 
gezogen, mit der in der Regel Ende April bewirkten 
Uebersiedelung nach Potsdam noch zu warten, und 
war vielleicht zum ersten Mal seit seinem Regierungs¬ 
antritt in Berlin geblieben. 
Der erste Mai, nicht freundlicher als alle die bis 
dahin vergangenen Frühlingstage, war angebrochen 
und warf seinen trüben Schatten auch auf die Stirn 
des Königs, der den Tag nicht eben freundlicher be- 
grüßte, als dieser ihn; und der diensthabende Kammer¬ 
diener, dessen geübtem Blick der Mißmut des Königs 
nicht entgehen konnte, telegraphierte, um demselben 
jeden Verdruß schon im Keime aus dem Wege zu 
räumen, dem im Arbeitszimmer des Königs harrenden 
Geheimkämmerer: „Vorsicht, Sturmwolken am Hori¬ 
zont!" Erschreckt inspizierte der Geheimkämmerer daS 
Zimmer noch einmal auf daS Genaueste; es war 
alles gut. Mit dem Blick eines Feldherrn übersah 
er alles, es kehlte nichts, es war alles an seinem 
Platze, alles in Ordnung; sein ängstliche- Gefühl 
wandelte sich in Sicherheit, in Siegesgewißheit und 
mit Ruhe erwartete er den König. Aber es fehlte 
dennoch etwas, und der eintretende König hatte dies 
sofort entdeckt. Mit Bestürzung sah der Geheim¬ 
kämmerer die schon auf de- Königs Stirn schwebende 
Wolke finsterer werden, folgte mit steigender Angst 
den forschend im Zimmer herumsuchenden Blicken deS 
Königs, bemerkte mit starrem Entsetzen, daß der sonst 
so gütige König auch nickt die geringste Notiz von 
seinem demütigen Morgengruß, von seinem tiefsten
	        
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