Full text: 1954 (0009)

Gewerkschaft und Politik 
von Hans Gottfurcht — Untergeneralsekretär des IBFG. 
In einer ganzen Reihe von Ländern ist die 
politische Stellung der Gewerkschaften in der 
letzten Zeit Gegenstand der öffentlichen Dis 
kussion und Auseinandersetzung gewesen. Es 
ist darum angebracht, einige der Gründe auf 
zuzeigen, aus welchen die Gewerkschaften sich 
für die politischen Angelegenheiten und die 
politischen Einrichtungen ihres Landes in 
teressieren müssen,und in welcher Weise. 
Bei vielen Gelegenheiten war es notwendig, 
unsere Gegner und sogar eirn'ge unserer eige 
nen Leute daran zu erinnern, daß die heutige 
Gewerkschaftsbewegung sich nicht länger mit 
Tarifverhandlungen und Festlegung der Löhne 
und Arbeitsbedingungen als einziger Aufgabe 
begnügen kann. Die wesentliche Grundlage 
aller gewerkschaftlichen Betätigung ist gewiß 
dieselbe, wie schon vor Jahrzehnten: einen 
immer größeren Anteil an den Gewinnerträg 
nissen der Industrie und am Wohlstand und 
dem Fortschritt jeder nationalen Wirtschaft 
für die Arbeitnehmer zu erkämpfen. Diese 
in vergangenen Zeiten so einfache Formel 
muß iedoch an die Wirklichkeit und die 
Kompliziertheit der modernen Gesellschaft an 
gepaßt werden. In den ,,alten Tagen" standen 
die Arbeiter dem Unternehmer in einem un 
gleichen Kampf gegenüber. Der Staat spielte 
entweder den Zuschauer oder setzte seine 
Macht zugunsten des Arbeitgebers ein. In je 
ner Zeit herrschte eine ganz gewisse Bestän 
digkeit im wirtschaftlichen Leben, und sogar 
die wiederholten Wirtschaftskrisen wurden 
mit einer Art philosophischer Gleichmütig- 
■ keit hyigenommeti. Die Mehrheit der Arbeiter 
war noch nicht zu jenem Stadium politischen 
Selbstbewußtseins gelangt, das dazu führt, 
Gleichheit der Rechte und der Möglichkeiten 
mit allen anderen Gruppen der Gesellschaft 
zu fordern. In nicht wenigen Ländern konnten 
die Arbeitgeber sich auf den Staat verlassen 
in ihrem Bestreben, eine mehr oder minder 
absolute Wirtschaftsmacht darzustellen, die 
gelegentlich durch Wohltätigkeitseinrichtungen 
vernebelt wurde. 
Es war natürlich, daß im Laufe der Zeit 
die Notwendigkeit einer politischen Vertre 
tung der Arbeitnehmer sich in der Bildung 
von Arbeiter- oder Sozialistenparteien nieder- 
schlug, oder, wie in den Vereinigten Staaten, 
von Gruppen, welche versuchten, auf die fort 
schrittlichsten Elemente der Politik des Landes 
einen Einfluß auszuüben. Auf dem europäi 
schem Festland war es im allgemeinen selbst 
verständlich, daß ein aktiver Gewerkschafter 
auch aktives Mitglied der sozialistischen Partei 
war. Der deutsche sozialistische Führer 
August Bebel sagte einmal, daß die Gewerk 
schaften die Rekrutendepots der Sozialdemo 
kratie säen. Die enge Verbindung zwischen 
den beiden Zweigen der Arbeiterbewegung war 
eine logische Folge des Umstandes, daß sie 
den Regierungen in jener Zeit und den Kräf 
ten hinter den Regierungen gemeinschaftlich 
sich entgegensetzten. 
Um die heutige Lage zu verstehen, muß man 
die Auswirkungen der revolutionären und 
der noch wesentlicheren evolutionären Ent 
wicklung der ersten Hälfte des Jahrhunderts 
berücksichtigen, welche unbestreitbar durch die 
beiden Weltkriege beschleunigt wurde. Sie 
änderte weitgehend das relative Gewicht, die 
Pflichten und Rechte der verschiedenen 
Klassen der Gesellschaft, Die Ansprüche des 
einzelnen sowohl auf seinen Anteil am So- 
IX 
zialprodukt wie auf eine praktische Gleich 
berechtigung wurden immer mehr erkannt. 
Parlamentarische Regierungen lösten die auto 
ritären oder halbdiktatorischen Systeme ab. 
Der Staat trat als Machtinstrument in den 
Hintergrund und hörte auf, Autorität an sich 
zu sein. Die Arbeitgeber und ihre Vereini 
gungen waren nicht länger die einzigen Ver 
treter der Wirtschafsmacht, denn die Struk 
tur der nationalen Wirtschaft veränderte sich 
durch die Nationalisierung oder Sozialisierung 
von Industrien und Wirtschaftsplanung und 
-kontrolle durch Regierungen und Parlamente. 
Das Tarifverhandlungsrecht der Arbeitnehmer 
wurde fast allgemein anerkannt. Der Haupt 
kampf ging infolgedessen nicht mehr um diese 
Anerkennung, sondern um die Tragweite die 
ser Tarifverhandlungen. 
Schon in der Vergangenheit waren klei 
nere Gewerkschaftsorganisationen, welche 
nicht in Verbindung mit sozialistischen Par 
teien arbeiteten, wie zum Beispiel die christ 
lichen Gewerkschaften, zu der Flrkenntnis 
gelangt, daß in dem Kampf für das Wohl 
ergehen der Arbeiter ein gemeinsames Auf 
treten wünschenswert sei. Ethische und reli 
giöse Anschauungen machten jedoch eine enge 
Zusammenarbeit unmöglich. Dann kam die 
Entwicklung, von der wir oben gesprochen ha 
ben. Die Regierungen waren nicht länger, es 
„sei wiederholt, Werkzeuge der herrschenden 
Klasse. Es gab Arbeiterregierungen oder Koa 
litionsregierungen, in denen die Vertreter der 
Arbeiterschaft eine entscheidende Rolle spiel 
ten, auch in Ländern, in denen die Arbeiter 
bewegung nicht an der Regierung teilnahm, 
machte eine aufgeschlossenere Haltung der 
öffentlichen Meinung es meist unmöglich, die 
alte Machtpolitik gegen die Arbeiter weiter- 
zufiihren. 
In Konzentrations- und Kriegsgefangenen 
lagern litten freie und christliche Gewerk 
schafter, Sozialisten und fortschrittliche 
Katholiken, liberale Menschen und andere Ele 
mente unabhängigen Denkens in derselben 
Weise durch dieselben Unterdrücker. Des 
wegen traten nach Beendigung des Krieges 
eine ganze Reihe der ideologischen Unter 
schiede der Vergangenheit in den Hinter 
grund. Die Auffassungen über die Gestaltung 
der Gesellschaft und ihren Inhalt waren nach 
wie vor verschieden, aber der übermächtige 
Wille zu einem besseren sozialen Dasein be 
fähigte die Arbeiterbewegung, eine Einheit 
zu schaffen, die politische und ideologische 
Schranken übersprang. Individuell schlossen 
sich die Arbeiter wie zuvor politischen Par 
teien oder ähnlichen Organisationen an, aber 
in vielen Ländern waren Gewerkschaftsbe 
wegung und sozialistische Partei nicht länger 
ein und dasselbe. Sie fuhren fort, harmonisch 
zusammenzuarbeiten, aber für die Vertretung 
der Interessen der Gewerkschafter im Parla 
ment galten neue Gesichtspunkte 
Der Schluß wurde gezogen, daß Arbeit 
nehmer oder Arbeitgeber im Parlament nicht 
durch politische Parteien vertreten sein 
sollten, sondern die Gewerkschaften lind Ar 
beitgebervereinigungen bei den Parlaments 
wahlen Kandidaten aufstellen sollten, die 
dann ihren Organisationen direkt verantwort 
lich wären. Wir brauchen uns nicht in Ein 
zelheiten zu verlieren, um auseinanderzu- 
setzen, warum eine solche Politik direkt zum 
korporativen Staat führen würde, der nicht 
weit vom Faschismus entfernt ist. Dollfuß in 
Österreich und Mussolini in Italien gehören 
zu der Schattierung von Diktatoren, welche 
versuchten, diese Art von Regierung einzu 
führen. Wir dagegen glauben fest an das 
demokratische System, in welchem politische 
Parteien für die politischen Entschlüsse ver 
antwortlich sind. Darum aber ist es dringend 
notwendig, für die Gewerkschaften, auf die 
politischen Parteien Einfluß zu nehmen, oder, 
wo weniger die Partei als die Persönlichkeit 
ausschlaggebend ist, mit Parlamentariern zu 
verhandeln. 
In einigen Ländern herrscht noch die Auf 
fassung, daß nur eine einzige Partei den In 
teressen der Gewerkschaft dienen kann, ln 
den skandinavischen Ländern und Großbritan 
nien, wo die Beziehungen zwischen der Ge 
werkschaftsbewegung und den sozialistischen 
Parteien beziehungsweise der Arbeiterpartei 
sehr epg sind, findet sich die öffentliche 
Meinung mit diesem Stand der Dinge ab. 
Wenn ein Hitzkopf aus dem britischen kon 
servativen Lager versucht, politisches Kapital 
aus der Verbindung TVC-Labour Party zu 
schlagen, wird er bald zur Ruhe gewiesen 
durch nüchternere Elemente, die in der Ver 
bindung zwischen politischer Arbeiterpartei 
und Gewerkschaftsbewegung nidits Verwerf 
liches sehen. So geschah es vor kurzem, Oder 
nehmen wir das Beispiel der Vereinigten Staa 
ten. Hier sprachen sich AFL u. CIO für die 
Wahl des demokratischen Präsidentschafts 
kandidaten aus, obgleich eine ganze Reihe von 
Gewerkschaften der republikanischen Partei 
nahestehen dürften. Weder die öffentliche 
Meinung noch die Republikanische Partei 
nahm den Gewerkschaften ihre Stellungnahme 
übel. Die Gegner der gewerkschaftlichen Be 
wegung stimmten gewiß nicht mit deren Hal 
tung überein, aber sie bestritten ihnen kei 
neswegs das natürliche Recht der Stellung 
nahme. 
ln Deutschland liegt das Problem anders. 
Von den nichtpolitischen Mitgliedern abge 
sehen, gibt es dort in den Gewerkschaften 
die beiden gewichtigen Gruppen Sozialisten 
und Christen. (Hauptsächlich katholische 
Christen). Niemand bestreitet, daß die poli 
tischen Parteien dieser beiden Gruppen, die 
sozialdemokratische Partei und die Christlich- 
Demokratische Union verschiedene Ansichten 
über die soziale Entwicklung hegen. Der 
deutsche Gewerkschaftsbund konnte infolge 
dessen seinen Mitgliedern nicht anraten, für 
die eine oder die andere Partei zu stimmen. 
Darum proklamierte er einfach als seinen 
Wunsch, daß ein „besserer Bundestag" ge 
wählt werden sollte, fortschrittlicher auf wirt 
schaftlichen und sozialen Gebieten und den 
Interessen der Arbeiter geneigter als denen 
der Arbeitgeber. Diese Proklamation rief in 
Deutschland eine Krise hervor. Man beschul 
digte die Gewerkschaften, den Grundsatz der 
strikten politischen Neutralität nicht einge 
halten zu haben. Vergleicht man diesen Vor 
wurf mit den Vorgängen in Großbritannien 
und den Vercinigten-Staaten, so ist man leicht 
versucht, sich zu fragen, ob er nicht nur auf 
das verschiedene Alter der demokratischen 
Tradition zurückzuführen war. In einem Land, 
das eine lange Zeit in unsicheren Verhält 
nissen gelebt hat, sind die Menschen empfind 
licher als in einem festgefügten Staat. Das 
gilt für Länder, die die volle Demokratie 
noch nicht oder erst vor kurzem erreicht 
haben. In ihren jungen Jahren nehmen die 
Gewerkschaften oft die Haltung an, die den 
jenigen politischen Parteien nahe kommt, 
welche dieselben Ziele wie sie verfolgen. 
Andererseits kann eine parteipolitische Neu-
	        
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