Gewerkschaft und Politik
von Hans Gottfurcht — Untergeneralsekretär des IBFG.
In einer ganzen Reihe von Ländern ist die
politische Stellung der Gewerkschaften in der
letzten Zeit Gegenstand der öffentlichen Dis
kussion und Auseinandersetzung gewesen. Es
ist darum angebracht, einige der Gründe auf
zuzeigen, aus welchen die Gewerkschaften sich
für die politischen Angelegenheiten und die
politischen Einrichtungen ihres Landes in
teressieren müssen,und in welcher Weise.
Bei vielen Gelegenheiten war es notwendig,
unsere Gegner und sogar eirn'ge unserer eige
nen Leute daran zu erinnern, daß die heutige
Gewerkschaftsbewegung sich nicht länger mit
Tarifverhandlungen und Festlegung der Löhne
und Arbeitsbedingungen als einziger Aufgabe
begnügen kann. Die wesentliche Grundlage
aller gewerkschaftlichen Betätigung ist gewiß
dieselbe, wie schon vor Jahrzehnten: einen
immer größeren Anteil an den Gewinnerträg
nissen der Industrie und am Wohlstand und
dem Fortschritt jeder nationalen Wirtschaft
für die Arbeitnehmer zu erkämpfen. Diese
in vergangenen Zeiten so einfache Formel
muß iedoch an die Wirklichkeit und die
Kompliziertheit der modernen Gesellschaft an
gepaßt werden. In den ,,alten Tagen" standen
die Arbeiter dem Unternehmer in einem un
gleichen Kampf gegenüber. Der Staat spielte
entweder den Zuschauer oder setzte seine
Macht zugunsten des Arbeitgebers ein. In je
ner Zeit herrschte eine ganz gewisse Bestän
digkeit im wirtschaftlichen Leben, und sogar
die wiederholten Wirtschaftskrisen wurden
mit einer Art philosophischer Gleichmütig-
■ keit hyigenommeti. Die Mehrheit der Arbeiter
war noch nicht zu jenem Stadium politischen
Selbstbewußtseins gelangt, das dazu führt,
Gleichheit der Rechte und der Möglichkeiten
mit allen anderen Gruppen der Gesellschaft
zu fordern. In nicht wenigen Ländern konnten
die Arbeitgeber sich auf den Staat verlassen
in ihrem Bestreben, eine mehr oder minder
absolute Wirtschaftsmacht darzustellen, die
gelegentlich durch Wohltätigkeitseinrichtungen
vernebelt wurde.
Es war natürlich, daß im Laufe der Zeit
die Notwendigkeit einer politischen Vertre
tung der Arbeitnehmer sich in der Bildung
von Arbeiter- oder Sozialistenparteien nieder-
schlug, oder, wie in den Vereinigten Staaten,
von Gruppen, welche versuchten, auf die fort
schrittlichsten Elemente der Politik des Landes
einen Einfluß auszuüben. Auf dem europäi
schem Festland war es im allgemeinen selbst
verständlich, daß ein aktiver Gewerkschafter
auch aktives Mitglied der sozialistischen Partei
war. Der deutsche sozialistische Führer
August Bebel sagte einmal, daß die Gewerk
schaften die Rekrutendepots der Sozialdemo
kratie säen. Die enge Verbindung zwischen
den beiden Zweigen der Arbeiterbewegung war
eine logische Folge des Umstandes, daß sie
den Regierungen in jener Zeit und den Kräf
ten hinter den Regierungen gemeinschaftlich
sich entgegensetzten.
Um die heutige Lage zu verstehen, muß man
die Auswirkungen der revolutionären und
der noch wesentlicheren evolutionären Ent
wicklung der ersten Hälfte des Jahrhunderts
berücksichtigen, welche unbestreitbar durch die
beiden Weltkriege beschleunigt wurde. Sie
änderte weitgehend das relative Gewicht, die
Pflichten und Rechte der verschiedenen
Klassen der Gesellschaft, Die Ansprüche des
einzelnen sowohl auf seinen Anteil am So-
IX
zialprodukt wie auf eine praktische Gleich
berechtigung wurden immer mehr erkannt.
Parlamentarische Regierungen lösten die auto
ritären oder halbdiktatorischen Systeme ab.
Der Staat trat als Machtinstrument in den
Hintergrund und hörte auf, Autorität an sich
zu sein. Die Arbeitgeber und ihre Vereini
gungen waren nicht länger die einzigen Ver
treter der Wirtschafsmacht, denn die Struk
tur der nationalen Wirtschaft veränderte sich
durch die Nationalisierung oder Sozialisierung
von Industrien und Wirtschaftsplanung und
-kontrolle durch Regierungen und Parlamente.
Das Tarifverhandlungsrecht der Arbeitnehmer
wurde fast allgemein anerkannt. Der Haupt
kampf ging infolgedessen nicht mehr um diese
Anerkennung, sondern um die Tragweite die
ser Tarifverhandlungen.
Schon in der Vergangenheit waren klei
nere Gewerkschaftsorganisationen, welche
nicht in Verbindung mit sozialistischen Par
teien arbeiteten, wie zum Beispiel die christ
lichen Gewerkschaften, zu der Flrkenntnis
gelangt, daß in dem Kampf für das Wohl
ergehen der Arbeiter ein gemeinsames Auf
treten wünschenswert sei. Ethische und reli
giöse Anschauungen machten jedoch eine enge
Zusammenarbeit unmöglich. Dann kam die
Entwicklung, von der wir oben gesprochen ha
ben. Die Regierungen waren nicht länger, es
„sei wiederholt, Werkzeuge der herrschenden
Klasse. Es gab Arbeiterregierungen oder Koa
litionsregierungen, in denen die Vertreter der
Arbeiterschaft eine entscheidende Rolle spiel
ten, auch in Ländern, in denen die Arbeiter
bewegung nicht an der Regierung teilnahm,
machte eine aufgeschlossenere Haltung der
öffentlichen Meinung es meist unmöglich, die
alte Machtpolitik gegen die Arbeiter weiter-
zufiihren.
In Konzentrations- und Kriegsgefangenen
lagern litten freie und christliche Gewerk
schafter, Sozialisten und fortschrittliche
Katholiken, liberale Menschen und andere Ele
mente unabhängigen Denkens in derselben
Weise durch dieselben Unterdrücker. Des
wegen traten nach Beendigung des Krieges
eine ganze Reihe der ideologischen Unter
schiede der Vergangenheit in den Hinter
grund. Die Auffassungen über die Gestaltung
der Gesellschaft und ihren Inhalt waren nach
wie vor verschieden, aber der übermächtige
Wille zu einem besseren sozialen Dasein be
fähigte die Arbeiterbewegung, eine Einheit
zu schaffen, die politische und ideologische
Schranken übersprang. Individuell schlossen
sich die Arbeiter wie zuvor politischen Par
teien oder ähnlichen Organisationen an, aber
in vielen Ländern waren Gewerkschaftsbe
wegung und sozialistische Partei nicht länger
ein und dasselbe. Sie fuhren fort, harmonisch
zusammenzuarbeiten, aber für die Vertretung
der Interessen der Gewerkschafter im Parla
ment galten neue Gesichtspunkte
Der Schluß wurde gezogen, daß Arbeit
nehmer oder Arbeitgeber im Parlament nicht
durch politische Parteien vertreten sein
sollten, sondern die Gewerkschaften lind Ar
beitgebervereinigungen bei den Parlaments
wahlen Kandidaten aufstellen sollten, die
dann ihren Organisationen direkt verantwort
lich wären. Wir brauchen uns nicht in Ein
zelheiten zu verlieren, um auseinanderzu-
setzen, warum eine solche Politik direkt zum
korporativen Staat führen würde, der nicht
weit vom Faschismus entfernt ist. Dollfuß in
Österreich und Mussolini in Italien gehören
zu der Schattierung von Diktatoren, welche
versuchten, diese Art von Regierung einzu
führen. Wir dagegen glauben fest an das
demokratische System, in welchem politische
Parteien für die politischen Entschlüsse ver
antwortlich sind. Darum aber ist es dringend
notwendig, für die Gewerkschaften, auf die
politischen Parteien Einfluß zu nehmen, oder,
wo weniger die Partei als die Persönlichkeit
ausschlaggebend ist, mit Parlamentariern zu
verhandeln.
In einigen Ländern herrscht noch die Auf
fassung, daß nur eine einzige Partei den In
teressen der Gewerkschaft dienen kann, ln
den skandinavischen Ländern und Großbritan
nien, wo die Beziehungen zwischen der Ge
werkschaftsbewegung und den sozialistischen
Parteien beziehungsweise der Arbeiterpartei
sehr epg sind, findet sich die öffentliche
Meinung mit diesem Stand der Dinge ab.
Wenn ein Hitzkopf aus dem britischen kon
servativen Lager versucht, politisches Kapital
aus der Verbindung TVC-Labour Party zu
schlagen, wird er bald zur Ruhe gewiesen
durch nüchternere Elemente, die in der Ver
bindung zwischen politischer Arbeiterpartei
und Gewerkschaftsbewegung nidits Verwerf
liches sehen. So geschah es vor kurzem, Oder
nehmen wir das Beispiel der Vereinigten Staa
ten. Hier sprachen sich AFL u. CIO für die
Wahl des demokratischen Präsidentschafts
kandidaten aus, obgleich eine ganze Reihe von
Gewerkschaften der republikanischen Partei
nahestehen dürften. Weder die öffentliche
Meinung noch die Republikanische Partei
nahm den Gewerkschaften ihre Stellungnahme
übel. Die Gegner der gewerkschaftlichen Be
wegung stimmten gewiß nicht mit deren Hal
tung überein, aber sie bestritten ihnen kei
neswegs das natürliche Recht der Stellung
nahme.
ln Deutschland liegt das Problem anders.
Von den nichtpolitischen Mitgliedern abge
sehen, gibt es dort in den Gewerkschaften
die beiden gewichtigen Gruppen Sozialisten
und Christen. (Hauptsächlich katholische
Christen). Niemand bestreitet, daß die poli
tischen Parteien dieser beiden Gruppen, die
sozialdemokratische Partei und die Christlich-
Demokratische Union verschiedene Ansichten
über die soziale Entwicklung hegen. Der
deutsche Gewerkschaftsbund konnte infolge
dessen seinen Mitgliedern nicht anraten, für
die eine oder die andere Partei zu stimmen.
Darum proklamierte er einfach als seinen
Wunsch, daß ein „besserer Bundestag" ge
wählt werden sollte, fortschrittlicher auf wirt
schaftlichen und sozialen Gebieten und den
Interessen der Arbeiter geneigter als denen
der Arbeitgeber. Diese Proklamation rief in
Deutschland eine Krise hervor. Man beschul
digte die Gewerkschaften, den Grundsatz der
strikten politischen Neutralität nicht einge
halten zu haben. Vergleicht man diesen Vor
wurf mit den Vorgängen in Großbritannien
und den Vercinigten-Staaten, so ist man leicht
versucht, sich zu fragen, ob er nicht nur auf
das verschiedene Alter der demokratischen
Tradition zurückzuführen war. In einem Land,
das eine lange Zeit in unsicheren Verhält
nissen gelebt hat, sind die Menschen empfind
licher als in einem festgefügten Staat. Das
gilt für Länder, die die volle Demokratie
noch nicht oder erst vor kurzem erreicht
haben. In ihren jungen Jahren nehmen die
Gewerkschaften oft die Haltung an, die den
jenigen politischen Parteien nahe kommt,
welche dieselben Ziele wie sie verfolgen.
Andererseits kann eine parteipolitische Neu-