ORGAN DEREINHEITSGEIDERHSCHAFTEN DER ARBEITER, ANGESTELLTEN UND BEAA1TEN
5. Jahrgang
Saarbrücken, 10. Oktober 1950
Nr. 19
Starker Auftrieb in der Lohnbewegung
Der Stand der Verhandlungen - Die bisherigen Lohnerhöhungen - Klare Willenskundgebung der saarländischen Arbeitnehmer - Erfolg der Solidarität
Die große Bedeutung des Warnstreiks - Kraftvolle Initiative bei allen Industrieverbänden - Zahlreiche Beitritte zur Einheitsgewerkschaft
Erfreuliches -
und Unerfreuliches
Sozialer Friede -
aber nicht um jeden Preis
Der Proteststreik im Saarland, der nach langen vergeblichen Bemühun
gen um eine notwendige Lohn- und Preisregelung am 2. Oktober angesetzt
wurde, wird als ein wichtiger Tag ln die Gewerkschaftsgeschichte einge-
ben. Die Aktion der rund 180000 Arbeitnehmer, die erste dieser Art seit
mehr als zwei Jahrzehnten, mußte infolge der unerträglichen Mißstände in
einer gespannten Situation durchgeführt werden. Der Konfliktsstoff hatte
sich gefahrvoll angesammielt, vor allem hervorgerufen durch das ständige
Absinken der Kaufkraft und durch die Verschleppungstaktik der Arbeitge
ber. Mit der Zielsetzung des Ausstandes war auch das Prestige der Ge
werkschaften als Ganzes wie auch der Einzelmitglieder eng verbunden.
Die Einheitsgewerkschaft, hat an diesem Tage ein deutliches Zeichen ihrer
Stärke und Umsicht, aber auch Ihres entschlossenen Willens gegeben, für
die Hebung des Lebensstandards der Arbeitnehmer und für die Neuord
nung der Wirtschaft zu kämpfen. Durch die Aktion hat der Gewerkschafts
gedanke, w*e die zahlreichen Beitrittserklärungen beweisen, weiter an Bo
den gewonnen, ln der letzten Woche wurden nun zwischen allen Industrie
verbänden und den Arbeitgeber Vertretern laufend Lohnverhandlungen ge
führt, die zum Teil abgeschlossen sind.
Srit Wochen kann jeder unvoreingenommene
Beobachter in allen saarländischen Betrieben, in
allen Haushaltungen und sogar im gesamten öf
fentlichen Leben des Saarlandes eine sich stän
dig steigende Unruhe feststellen. Ursache die
ser Beunruhigung bildet die krasse Diskrepanz
zwischen Renten, Unterstützungen. Löhnen und
Gehältern einerseits und Lebenshaltungskosten
andererseits. Verschärft hat sich dieser Miß-
Btnnd, der nun schon seit Jahr und Tag be
steht, seit Anfang Juli durch wesentliche Preis
steigerungen. Es begann mit einer Erhöhung der
Brotpreise. Weitere Preisverteuerungen erfuh
ren Fleisch und Fett und teurer wurden schließ
lich alle aus Mehl hergestellten Nahrungsmittel.
Aber auch andere Verbranchsgüter und vor al
lem Rohstoffe sind nach Ausbruch des Korea
konfliktes. durch Druck vom Weltmarkt, durch
Warenverknappung und Angstkäufe, aber nicht
zuletzt durch Spekulationen, im Preis gestie-
gen.
Angesichts dieser Entwicklung ist es nur ver
ständlich, wenn die Gewerkschaften sich für
eine Erhöhung der Löhne und Gehälter und
Renten einsetzen, um die Kaufkraft der Werk
tätigen dadurch in etwa den Preissteigerungen
wiederum anzupassen. Sie müssen diese Erhö
hungen verlangen, weil ihre verantwortungs
volle Haltung in der Vergangenheit, die auf die
Herstellung einer vernünftigen Relation zwi
schen Einkommen und Lebenshaltungskosten ab-
zielle, nicht auf die entsprechende Haltung der
Gegenseite gestoßen ist, die ganz einseitig nur
Ablehnende Argumente ins Feld führte. Es kann
nicht o|t genug darauf hingewiesen werden,
daß die saarländischen Gewerkschaften — und
hier vor allem die Einheitsgewerkschaft — sich
fortgesetzt bemüht haben, eine Verschlechterung
der Lebenshaltung der Arbeitnehmer zu verhin
dern, Aber alle Mahnungen und Warnungen
blieben bei den verantwortlichen Wirtschafts
kreisen unbeachtet. Ja, man suchte sogar von
der Teuerung dadurch abzulenken, daß man sie
einfach bestritt. Mit amtlichen Angaben der
-Lebenshaltungskosten wollten manche beweisen,
daß das Lehen nicht vder nur unwesentlich teu
rer geworden sei, obwohl doch außer Zweifel
steht , daß seit Anfang Juli wesentliche Preis-
vertcucrungcn bei lebensnotwendigen Ver
brauchsgütern eingetreten sind. Die Lebenshal
tungskosten, die in gewissen Indexberechntingcn
ermittelt werden, beziehen sich auf einen fik
tiven Warenkorb, bei dem unterstellt wird, daß
die Indexfamilie nur diese Waren kauft. Aber
dieses trifft nur in den wenigsten Füllen zu.
Wir wollen zwar anerkennen, daß die Re
gierung des Saarlandes es an wirlsrhaftspoliti-
schen Maßnahmen nicht fehlen läßt, um dem
preissteigenden Treiben mancher Intcressen-
tengruppen entgegenzuwirken. Da aber unsere
Regierung auf die preisbestimmenden Faktoren
keinen Einfluß auszuüben vermag, müssen wir
feststclleu, daß die Verbraucherschaft solchem
Treiben fast schutzlos gegenüberstcht. Unter
diesen Umständen ist es nicht verwunderlich,
wenn der Gewerkschaftsausschuß der Einheits
gewerkschaft gegen diese Mißstände einer freien
Marktwirtschaft, die sich zudem noch ,.s o -
zial“ nennt, zu einer Protestaktion aufrief.
Die Warnaklion drückt aber neben der Sor
ge der Arbeitnehmerschaft um ausreichende
Löhne und Gebälter die tiefe Unzufriedenheit
der Werktätigen aus über die Haltung der Un
ternehmer bezüglich einer Neuordnung dei
Wirtschaft und die damit verbundene gleichbe
rechtigte Einschaltung der arbeitenden Men
schen und ihrer Organisationen in allen wirt-
srhaflspolitischcn Entscheidungen. Es ist in
diesen Tagen und Wochen der arbeitenden Be
völkerung an der Saar klar geworden, daß erst
dann, wenn die Wirtschaft neu geordnet und
die Mitbestimmung der Arbeitnehmer verankert
ist, eine Besserung der Lebenshedingungen für
die schaffenden Menschen gewährleistet sein
wird. Erst die von uns mithestiramte Wirt
schaft und die gerechte Verteilung des Sozial
produktes garantieren und damit die Hebung
des Lcbensstandardes aller Schichten unserer
Heimat sicherstcllen.
Dieser Streik nach einem Vierteljahrhundert
sozialen Friedens war ein Warnstreik. Eine
Warnung an alle Arbeitgeber, aus dem Ernst
der Situation die notwendigen Konsequenzen
zu ziehen. Die Gewerkschaften wünschen den
sozialen Frieden; sie wollen ihn jedoch nicht
um jeden Preis. Ob er erhalten bleibt, wird
letzten Endes davon abhängen, ob man die
Werktätigen zwingt, um die Verwirklichung
ihrer berechtigten Forderungen ernsthaft zu
kämpfen. H. L.
... In den letzten Septembertagen stei
gerte sich die Unruhe in den Betrieben,
in den Haushaltungen und im ganzen öf
fentlichen Leben des Saarlandes. Das
Mißverhältnis zwischen Löhnen und Prei-
seiuhatte sich von Tag zu Tag verschlim
mert. Seit Wochen und Monaten folgten
Mahnungen, Warnungen und praktische
Vorschläge seitens der Gewerkschaften,
um der Krise zu begegnen. Die papiemen
Proteste blieben jedoch, da sich die Ge
genseite den vorgetragenen Argumenten
hartnäckig verschloß, ohne die notwendi
gen Gesamtergebnisse.
Als dann am Sonntag, dem 1. Oktober,
in Sulzbach die Revierkonfe. einz des I. V.
Bergbau der Einheitsgewerkschaft und in
Saarbrücken die GCS Beschlüsse faßten,
sofort t einen 24-stündigen Warnstreik
darchzuführeri, entsprachen diese Be-
Mit großer Spannung sah man hierauf
allgemein der durch Rundfunk am Abend
des 1. Oktober bekanntgegebenen und für
Montag früh anberaum'en Zusammenkunft
des Gewerkschaftsausschusses entgegen.
In dieser Sitzung kam es nach einer kur
zen Aussprache zu einem einstimmigen
Beschluß, in dem es hieß:
„Da die Entwicklung der Lohn- und
Preisverhältnisse an der Saar und dar
Fortgang der Verhandlungen zur Lohn-
und Preisgestaltung in seiner Gesamt
heit in keiner Weise befriedigt, billigt
der Gewierkschaftsausschuß den Be
schluß der Bergarbeiter, die Arbeit
von Montag, dem 2. 10. 1950, ab 6.00
Uhr, bis Dienstag, dem 3. 10. 1950,
morgens 6.00 Uhr, niederzulegem und
erklärt sich mit den Bergarbeitern so
lidarisch.
Der Gewerkschaftsausschuß be
schließt ebenfalls, vorbehaltlich wei
terer Aktionen, als ganz besondere
Warnung gegen dte Preissteigerung
am heutigen Tage ab 12.00 Uhr bis
zum Dienstag, dem 3. 10. 1950, mor
gens 6.00 Uhr, die Arbeit in allen Be
trieben des Saarlandes niederzu
legen.
Die erforderlichen Notstands arbei
ten sind grundsätzlich zu verrichten.
Um die Versorgung der Kranken
häuser zu gewährleisten, wird die Ar-
schlüsse dem einmütigen Willen der Saar-
bergarbeiterschaft.
Die Entschließung des I. V. Bergbau be
sagte u. a.:
„Im Zeichen des Wamstreikes for
dert die Belegschaft der Saargruben:
a) eine Lohnerhöhung, die mit der
saarländischen Lebenshaltung und der
Förderung der Saargruben bn Einklang
stehe; b)) den Abschluß eines Tarif
vertrages für den Saarbergbau, nach
dem das Tarifvertragsrecht der Saar
regierung Rechtskraft erhalten hat; c)
strenge, staatliche Maßnahmen gegen
den Preiswucher; d) eine sofortig« Ren
tenerhöhung von 30 Proz., die Zah
lung der rückständigen Renten und
die endliche Einführung der Knapp
schaftsreform.
beit in den Betrieben der Gas-, Was
ser - und Elektrizitätsversorgung nicht
niedergielogt.
Der Gewerks chaftsaus schuß be
schließt weiterhin einstimmig, daß der
Eisenbahnverkehr aufrecht zu erhal
ten ist, da insbesondere die Heimbe-
förderung der tm Ausstand befindli
chen Arbeitnehmer gewährleistet sein
muß. Die Protestaktion wird jedoch
beschlossen für Werkstätten und ähn
liche Betriebe der Eisenbahn sowie für
die Rotte narbeiter.
Am Dienstag, dem 3. 10. 1950, 6.00
Uhr morgens, wird die Arbeit pünkt
lich in vollem Umfang« wieder auf
genommen.
Der Gewerkschaftsausschuß erwar
tet von allen Arbeitnehmern der Saar,
daß sie diese Aktion ln vollster Ruhe
und Disziplin durcbfUhien."
„Alle Räder stehen still, wenn
Dein stark er Arm es willl“ An
diese bekannten Worte wurde unwillkür
lich jeder erinnert, der an diesem Tage
der Arbeitsniederlegung auf die großen
Arbeitsstätten und Verkehrseinrichtungen
blickte.
Im Bergbau war die Arbeitsniederle
gung lOOprozentig. Die Solidarität aller
Verbände erfüllte die Gewerkschaftler mit
Stolz.
(Fortsetzung Seite 2)
Betrachtungen zum Warnstreik im
Oeffentlichen Dienst
Der Streik, zu dem die beiden Gewerk
schaften aufriefen, brach für viele zwei
fellos überraschend aus. Im Nu waren
sämtliche Telefonleitungen in der Brauer
straße verstopft, ein Umstand, der sowohl
die Gewerkschaftsleitung hinderte, mit
dei notwendigen und wünschenswerten
Schnelligkeit nach draußen zu dringen als
auch umgekehrt die Funktionäre, sich an
die Streikleitung zu wenden. In der Durch
führung des Streiks traten infolgedessen,
einige verständliche Mängel auf, die aber
den Gesamteindruck nicht beeinträchtig
ten.
Was uns nachträglich mehr interessie
ren sollte, sind einige Begleiterscheinun
gen am Rande, die teils unerfreulichen —
teils erfreulichen Charakter tragen. Da
wäre zunächst einmal die Tatsache zu
nennen, daß einige Beamte übers Ziel hin
ausgeschossen ßind, als sie sich auf den
Standpunkt stellten, daß es ihnen auch
verboten sei, die Durchsage der Gewerk
schaften weiterzugeben. Die Saarländi
sche Verfassung stellt lediglich in Artikel
119 fest, daß die Stellung des Beamten
zum Staat das Streikrecht aus schließe.
Darunter ist unzweifelhaft das aktive
Streikrecht zu verstehen, d. h. das Recht
selbst zu streiken. Darin eine Anweisung
zu erblicken, den Kameraden im Arbeits
verhälthis den Streikbeschluß der Gewerk
schaften vorzuenthalten, ist ebenso ab
surd wie lächerlich. Da kann man nur
wünschen, daß die Eierschalen einer zwei
hundertjährigen Entwicklung bald als sol
che erkannt und abgeschüttelt werden.
Etwas ernster ist die Absicht zu bewer
ten, am Tag darauf die Namen der Strei
kenden feststellen zu lassen, um, wie be
hauptet wurde, einen Ueberblick zu ge
winnen, auf wen man sich beim nächsten
Streik verlassen könne und auf wen nicht.
Es ist für unser Land bezeichnend, daß
die Verfassung unter dem Gesichtspunkt
„Das darfst du“, so herzlich wenig re
spektiert wird. Da^, Streikrecht ist ein in
der Verfassung niedergelegtes Recht. Wer
deshalb Streikende als unzuverlässig be
zeichnet, stellt sich in Widerspruch zu ihr.
Wir kennen die geistige Verfassung das
Ignoranten nur zu gut und empfehlen die
sem juge id ichen Greis, von seinem Baby
lon herunterzusteigen. Unsere Zeit hat
weder Raum noch Interesse für ein Insel
dasein, auf das man sich allein oder mit
einem Grüppchen zurückziehen kann. Die
Welt ist klein und eng geworden, und sie
hat die Tendenz, noch enger und kleiner
und notwendigerweise damit ungemütli
cher zu werden. Ob uns das recht ist oder
nicht, danach werden wir nicht gefragt.
Weil wir an der Dynamik des Geschehens
nichts ändern können,sehen wir uns vor die
zwingende Entscheidung gestellt, im Strom
der Zeit mitzumarschieren, um Einfluß auf
den Lauf des Geschehens zu gewinnan
oder uns vor die Räder zu legen und zer
malmt zu werden. Als Gewerkschaftler
haben wir uns für das erstere entschie-
Am Tage des Warnstreiks
Ein Tag des Stillstands und des Schweigens im Saarbrücker Hafengelände (links), wo »ich sonst ununterbrochen die Kranen bewegen,
um in stetem Geknatter die Schiffe mit schwerer Last zu beladen. — Das Saarbrücker Straßcnba' depot (rechts), mit einem Teil der
Straßenbahnwagen, die sonst dem rastlosen Verkehr dienen, der die Arbeitnehmer täglich zu und von ihren Arbeitsplätzen bringt.
Die Losung des Gewerksdiaftsaussdiusses