Full text: 2.1947 (0002)

IM SPIEGEL DES JAHRES 
3n wenigen Tagen nehmen wir 
Abschied von einem Jahr, das 
uns bedeutsamen politischen, sozia¬ 
len und wirtschaftlichen Ereignis¬ 
sen gegen überstellte und das auch 
für das Saarland und seine Einheits¬ 
gewerkschaft von weittragenden Fol¬ 
gen sein wird. Aus dem Chaos der 
Nachkriegszeit, das uns .iede Hoff¬ 
nung auf eine bessere Zukunft nahm, 
zeichnen sich umrißhaft neue For¬ 
men eines sozialen und wirtschaft¬ 
lichen Lebens an. Noch sind wir 
nicht frei in unseren eigenen Ent¬ 
schließungen und von einem höheren 
Willen abhängig, doch clie Großmut 
des Siegers beließ uns das Leben 
und damit den Auftrag, ein neues 
Dasein zu beginnen. Das Grenzland¬ 
schicksal der Saar mag im großen 
europäischen Konzert der Völker zu 
einer besonderen gedanklichen Per¬ 
spektive Anlaß geben, die nicht im¬ 
mer frei ist. von politischen Speku¬ 
lationen und vielen Mißverständnis¬ 
sen unterworfen ist. Wenn wir 
heute an der Schwelle eines neuen 
.Jahres die Zeitspanne der jüngsten 
Vergangenheit seit Kriegsende über¬ 
blicken, so möge manchem Gewis¬ 
sen und mancher Kritik, denen es an 
Einsicht, fehlte, die zielklaren Be¬ 
mühungen offenbar werden, die in 
wechselseitigem Spiel den formen¬ 
den Kräften einer neuen Zeit eigent- 
tümlich geworden sind. Der Wille 
zur Selbsterhaltung eines durch den 
Krieg hart geprüften Volkes und die 
Bereitschaft der ungebrochenen Kraft 
des Überwinders trafen sich auf 
einer gemeinsamen Ebene, der wir 
heute mit dankbarem Herzen zu- 
kunftsträehtige Werke erwachsen 
sehen. 
Im besondei'en Maße trifft dies für 
unser kleines Saarland zu. Es wäre 
müßig, bei den Trümmern zu begin¬ 
nen, die uns heute noch umgeben, 
aber in wachsendem Maße sich aus 
unserem Blickfeld verlieren und es 
wäre nicht klug, die Schuld zu er¬ 
neuern, um derentwillen Generatio¬ 
nen sühnen werden. Wir sollten end¬ 
lich beginnen, das Rückwärtsschauen 
zu vergessen und uns an den Mög¬ 
lichkeiten zu orientieren, die uns das 
Erbe einer unseligen Epoche über¬ 
lassen hal. Was wi»’besitzen sind 
nicht Reichtümer und große Schätze, 
es ist nicht mehr viel an sachlichen 
Werten vorhanden, ein dezimiertes 
Wirtschaftspotential, aber wir ver¬ 
fügen über ein kostbares Gut, das 
uns hoffnungsfroudig machen sollte, 
wir besitzen die Arbeitskraft unserer 
Menschen, die entschlossen sind, dem 
Chaos zu entrinnen und sich eine 
neue Welt der Eintracht und Zufrie¬ 
denheit. eine Welt der sozialen und 
wirtschaftlichen Gerechtigkeit auf¬ 
zubauen. Wir besitzen aber auch die 
Kraft* des Landes, die in den 
Schätzen der Erde ruht und wir sind 
nicht arm an Ansehen, dem die ge¬ 
werbliche Leistung der Saar in Eu¬ 
ropa und in der Welt begegnet. 
Diese Aspekte berechtigen zur Hoff¬ 
nung und lassen uns die Konturen 
der Möglichkeiten erkennen, die in 
den Menschen und in der Natur un¬ 
serer Heimat erschlossen sind. 
Das sich vollendende Jahr hat uns 
politisch vor eine Situation gestellt, 
die einmal in die Geschichte des Lan¬ 
des mit ehernen Lettern eingetragen 
wird. Wir^ sind nicht undankbar, 
wenn wir uns am 5. Oktober 1947 zur 
politischen Autonomie des Saarlan¬ 
des bekannt haben und uns im vol¬ 
len Bewußtsein der Folgen bereit 
finden, den wirtschaftlichen An¬ 
schluß mit Frankreich zu vollziehen. 
Wir wissen um die historische Be¬ 
deutung dieses Schrittes, wir wissen 
aber auch um das hohe Maß an Ver¬ 
antwortung, das sich darin nieder¬ 
schlägt. Seit vielen Jahrzehnten ist 
die Wirtschaft über die Grenzen der 
Länder hinausgewachsen und hat die 
Menschen in einer höheren Gemein¬ 
schaft zusammengeschlossen. Diese 
Erkenntnis allein kann uns schon 
genügen, um eine Tat zu legimitie¬ 
ren, die auch aus natürlichen Grün¬ 
den verständlich, einem größeren 
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Ziele dient, als ein engstirniger Na¬ 
tionalismus wahrhaben will. Die Be¬ 
deutung dieser Ereignisse kann man 
nicht messen an den Ungereimthei¬ 
ten einer kurzen Übergangsperiode. 
Sie muß aus vielerlei Rücksichten 
durchgestanden werden Das Auf¬ 
gehen in ein größeres auf nahezu 
friedensmäßigen Touren laufenden 
Wirtschaftssystems erfordert Zwangs¬ 
lagen. die nur ein klarer nüchterner 
Verstand und die Bereitschaft ~nr 
Erfüllung eines historischen Auftra¬ 
ges meistern können. Wir haben da¬ 
mit einen Schritt näher zur Demo¬ 
kratie hingetan, die wir in vielen 
Maßnahmen und in manchen per¬ 
sönlichen Freiheiten spüren und die 
uns ahnen lassen, was uns eine ge¬ 
walttätige Epoche vorenthielt. Die 
Gewißheit, in einem größeren Ver¬ 
bände die Welt wieder zu gewinnen 
und über kleinliche Hemmungen 
hinweg dem größeren Dienst am 
Wohle der Menschheit unseren Bei¬ 
trag zu leisten, soRte uns mit Zu¬ 
versicht erfüllen und uns eiaub*m 
machen, daß es noch eine Zukunft 
auch für das Saarland geben wird 
Die Verfassung, die dem Willen d^g 
Volkes entsprang und die in ih*-on 
Artikeln über die Neuordnung un¬ 
seres sozialen und wirtschaftlich^! 
Lebens wesentliche Gesichtspunkte 
alter Gewerkschaftefornernngen be¬ 
rücksichtigt bat, wird künftighin dom 
Land ein Fundament geben, das «'in 
erträgliches Leben seines Volkes ver¬ 
spricht. Gewiß werden wir nicht 
frei sein von den Belastungen d^r 
Vergangenheit Aber wir werden sie 
leichter tragen können und rascher 
den Aufbau vollenden als er in dem 
bisherigen Zustand hätte erwartet 
werden können. Wir selbst in der 
Einheitsgewerkschaft haben uns die¬ 
ser Lösung nie versaet und in klarer 
Sicht der Voraussetzungen die die 
Neugestaltung des wirtschaftlichen 
^ ^ Lebens iedes einzelnen Werktätigen 
h bedingen, in dem Anschluß d;e ein¬ 
zige Möglichkeit erkannt, die uns 
verbleibt, nicht nur uns selbst, son¬ 
dern auch dem Reich jede nur mög¬ 
liche Erleichterung, sei es in der 
Versorgung seiner Bevölkerung, sei 
es in der Verwertung seiner gewerb¬ 
lichen Leistungen, zu verschaffen. 
Damit haben wir nicht die kulturel¬ 
len und auch persönlichen Beziehun¬ 
gen mißachtet, die uns auch heute 
noch an Deutschland binden. Man 
mag uns nationale Selbstverleug¬ 
nung vorwerfen, doch sollte man be¬ 
denken, daß in einer Zeit, die Eu¬ 
ropa selbst dem Schicksal eines 
Grenzlandes aussetzt, das Beispiel 
einer partiellen Lösung vielleicht: zu¬ 
gleich die Initialzündung zu einem 
Werke kontinentalen Ausmaßes sein 
kann. So trägt der Anschluß in sich 
ein Stück der großen europäischen 
Idee, die zu verwirklichen alle wil- 
/ 
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