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Spita 4__,
Freier Soxialism uh
Von Alfred Weber
Der bekannte Nafionalöknnom und Soziologe Alfred Weber widmet
ln einer kürzlich erschienenen und von ihm gemeinsam mit Alexander
Mitscherlich herausgegebenen Schrift „FreierSozialismus“ den Arbeiter¬
kind Angeslelltenrechten einen interessanten Beitrag, mit dessen Inhalt
wir uns keineswegs in allen Teilen oim erstanden erklären können, der
aber eine Reihe wertvoller Hinweise und diskutabler Perspektiven gibt,
die uns der Wiedergabe wert erscheinen. Die Redaktion.
Es handelt sich für den freien Sozia¬
lismus darum, dem Arbeiter, der heule
außer dem in der Industrie bekann¬
teimaßen nur beschränkt anwend¬
baren Produklivgenossenschalten auf
keine Weise mehr, auch durch den
SUialssozialismus nicht, in den Besitz
der seiner Verfügung entzogenen Pro¬
duktionsmittel gesetzt werden kann,
Soviel Einfluß auf sein Arbeits- und
Berufsschicksal zu geben, als in den
Großorganisationen. in die er heute
unentrinnbar eingestellt ist, möglich
ist. Daiiir ist selbstverständlich neben
dem staatlichen Arbeiterschutz, der
Sozialversicherung und dem ßetriebs-
ralswesen freies Gewerkschaftsleben
nolig, am besten in der Form der Ein¬
heitsgewerkschaft, welche die Ange¬
stellten mitumschließt. Eine solche
Einheitsgewerkschaft läßt keine sozial
nach unten abgeschlossene Zwischen¬
schicht über der Arbeiterschaft orga¬
nisiert entstehen. Sie hält dem Arbei¬
ter, soweit als möglich, den persön¬
lichen Aufstieg im Betriebe frei, der
weitgehend gefördert werden kann
durch das gemeinsame gewerkschaft¬
liche Handeln. — Dafür weiter vor
allem Tarifverträge, aber keine
Zwangsschiedssprüche, wie sie die
Weimarer Republik eingolührt hatte,
außer in Fällen öffentlicher Not und in
Gestalt jeweils besonders zusammen¬
gesetzter Schiedsgerichte oder eigens
bestellter Schiedsrichter. Die engli¬
schen Gewerkschaften haben auf ihrem
letzten Kongreß die Zwangsschiedsge¬
richtsbarkeit aus gutem Instikt für
soziale Freiheit und Initiative abge¬
lehnt, weil sie den Streik als Mittel des
Sich-Einsetzens der Arbeiter für die
freie Milbestimmung ihres Loses für
notwendig gehalten haben Es haben
sie die deutschen Erfahrungen der völ¬
ligen Ausschaltung von Streiks ge¬
schreckt, die die Gewerkschaften in
Wahrheit zu reinen Verwaltungsinsti-
tulionen zu machen, tendierten deren
Leiter sich als Beamte, nicht mehr als
Führer im freien Ringen der Arbeiter
um ihre Existenz betrachteten. Der freie
Sozialismus, der die geistige Spon¬
taneität und Selbstverantwortung,
wo er kiann, aufrechterihalten will,
muß den Streik mit seinen persön¬
lichen Gefahren litr den Arbeiter be¬
jahen. Er kann das ohne Gefahr für
die Interessen der Arbeiter, da die
Position der Unternehmer im freien
Sozialismus nicht mehr die übermäch¬
tige ist wie lriiher.
Die staatlichen Schutz- und För-
derungsmaßnahmen müssen selbstver¬
ständlich daneben soweit als möglich
weiter vorange'rieben werden: Mini¬
mallohn, 48-Stundenwoche, bezahlter
Mtägiger Urlaub sind ohne weiteres
gegebene Teile davon.
Aber den Arbeitern als Klasse ste¬
hen durch Vorwärtstreiben der heuti¬
gen Organisation der Industrie weitere
große Möglichkeiten zum mindesten
als Mitbcstimmer ihres Schicksals
offen. Es gibt die Betriebsräte; und
man kann ihre Befugnisse ausbauen
bis zu einer Mitkonfrolle der Arbeiter
im Betriebe, die auch einen Anlf I an
der Betriebsführung in sich zu.schlie¬
ßen vermag. Vor allem jedoch: Das
sozialistisch regierte England gibt
heute ein Vorbild, wie überall dort,
wo in der Industrie das freiwagende,
bewegliche Unternehmertum und die
Anpassungsmöglichkeiten der kapita¬
listischen Betriebsform noch nicht ent¬
behrt werden können, in dem außer¬
ordentlich großen Sektor vor allein der
unter schärfster internationaler Kon¬
kurrenz stehenden Maschinen- und
Fertigindustrie, an die Stolle der Sozia¬
lisierung etwas gesetzt werden kann,
was man dort den „mittleren Weg"
nennt. Um die in den Kriegszeiten
gefährdete Produktionshöhe zu halten
und zu steigern, hatte man damals in
den einzelnen Fabriken aus Unterneh¬
mer organisierten Arbeitern gleich¬
berechtigt zusammengesetzte Produk¬
tionsräte (joined production Commi¬
tees) geschaffen, die, wie man es aus-
drückl, eine demokratische Parlner-
schalt (démocratie partnership) zwi¬
schen beiden Teilen herbeiführen
sollten und herbeigeführt haben. Man
hat diese UmgeslaKung der Industrie,
die alsbald mehr als 7000 Fabriken um¬
faßte und gleich anfangs ganze Indu¬
striezweige wie die Textilindustrie von
Lancashire, die Automobilindustrie von
Die Arbeit'*
Conventry, in ihre Form gebracht hat.
auch für die schwierige Umstellung
auf die Fricdensproduktion, für die
künftige Voübe&dhäftigung der Ar¬
beiter und für die dafür notwendige
gesteigerte Leitungskraft der Indu¬
strie nach dem Kriege br-ibehalten, ja
verbreitert. z\lle gewerkschaftlichen
Hemmungen gegenüber Rationalisie¬
rungen sind dem neuen Geist der Zu¬
sammenarbeit /um Zweck der für Eng¬
land allerdings vital zur Zeit notwen¬
digen generellen Leistungssteigerung
zum Opfer gefallen. Die Gewerkschaf-
ten sind Mitbefurderer der industriellen
Rationalisierung geworden, die sie ja
stets im Augenblick gefährdet. Sie
sind es geworden unter dem Gesichts¬
punkt der beschäftigungfördernden
Wirkung größerer allgemeiner Lei¬
stung. — Manche halten das ihr ein
neues industrielles Zeitalter, das dort
anh'ebt. Das mag und wird übertrie¬
ben sein. Aber klar ist: Außerordent¬
liche Möglichkeiten für die Gcwerk-
schaltsformalionen als Träger der
Partnerschaft auf der Arbeiterschaft
sind gegeben. Diese wachsen, wo die
neue Form «ich durchsetzt, mit glei¬
chen Rechten hinein in die Produktion
und verwandeln die Produktion, ob¬
gleich sie äußerlich kapitalistisch or¬
ganisiert bleibt. Die Verwaltung geht
so weit, daß heute im Zeitalter der
ersten Regierung in England, die so¬
zialistisch umzugestalten sucht, Unter¬
nehmer und Gewerkschaftler gemein¬
sam an das Radio treten und gemein¬
sam für Produktionsförderung und Ra¬
tionalisierung zum Zwecke größerer
Effizienz plädieren. Wobei es sicher¬
lich nicht völlig Phrase ist, wenn der
Unternehmer dabei erklärt, er fühle
sich in dieser stark verwandelten Welt
zur Zeit weniger als ein Privatmann,
der seine privaten Möglichkeiten zu
entfalten suche, denn als ein „öffent¬
licher Diener".
Die Gewerkschaften, auch und grade
als Einheitsgewerkschaften, die sie
heule bei uns sind, werden im Augen¬
blick in Deutschland stark ins politi¬
sche Gebiet hineingezogen. Sie er¬
scheinen den Besatzungsmächten wohl
als der am festesten organisierte anti¬
faschistische und anlinazistische Mas-
senbiock. Und man scheint sie als
solchen festen Block auch für rein
politische Autgaben, wie die Entnazi-
sierung, mit heranziehen zu wollen.
Man muß zu bedenken geben, daß auf
die eindeutig demokratischen, politi¬
schen Parteien dafür zurückzugreifen
woh! der richtigere Weg wäre. Denn
man entfremdet die Gewerkschaften
dadurch ihren eigentlichen großen
__ November 1940
Aufgaben, den wirtschaftlichen und
sozialen nämlich, die auf dem Weg
der Freiwilligkeit zu lösen sind. Und
überdies: Wenn die Einheitsgewerk¬
schaften schon zu politischen Willens-
tiügern gemacht werden, wo liegt dann
die Schranke gegen ihre Ausgestaltung
zu einer Art totalitärer Einheitspartei,
die Schranke also dagegen, daß sie
sich, auf demokratischer Basis aufge¬
baut, doch zu einem Totengräber
wahrer Demokratie entwickelt? Wo
liegt auf der andern Seite die Schranke
dagegen, daß auch wirtschaftliche
Massenorganisationen anderer Art,
Bauernbünde u. dgl. , auftreleri und
gleichfalls die Uebertragung politi¬
scher Rechte auf sich verlangen? Da
dann organisierte wirtschaftliche In¬
teressengruppen an die Stelle von
politischen Parteien treten, würde das
die Auflösung der Demokratie bedeu¬
ten — jene Art der Auflösung, die
schon einmal in Deutschland unrühm¬
lich bekannt gewesen ist und vermö¬
gen deren man das deutsche Parlament
am Ende nicht ganz mit Unrecht einen
„rntereesentenhaufen" nennen konnle.
Gerade der Sozialist, derjenige näm¬
lich, der freien, wirklich demokrati¬
schen Sozialismus will, muß Reinlich¬
keit verlangen. Er darf nicht geschlos¬
sene Wirtschaft«- und Sozialgruppen,
auch nicht solche der Arbeiterklasse,
Rechte an sich reißen lassen, die nur
dem demokratischen Volk alz ganzem
und seinen auf wahrer politischer
Mehrheitsbildung aufgebauten Parteien
zustehen. Sonst wird die stets nur im
ganzen Volke durch das ganze Volk
zu vollziehende politische Willens-
bildtmg verfälscht oder praktisch auf¬
gehoben und die Demokratie und Frei¬
heit untergraben, bis beide eines Tage«
nur noch Fassade sind und dann ver¬
schwinden mit der Totalisierung als
Resultat.
Also die Gewerkschaften in die Wirt¬
schaft und nicht in die Politik. Wir
sahen, welche außerordentliche Stei¬
gerung ihrer Bedeutung ihrer hier war¬
tet, wenn sie die Zeit richtig erkennen.
Denn es ist nicht einzusehen, warum
die englische Partnerschaft als eine
VerwaUungsiorm der kapitalistischen
Industrie nicht ebensogut auch bei uns
verwirklicht worden könnte. Und wel¬
che stolzere Aufgabe kann den Ge¬
werkschaften erwachsen als in freier
Wirtsrhaftsumgestaltung wirklich voll
gleichberechtigte Mitträger der Pro¬
duktion zu werden und also überall
dort, wo der Kapitalismus heute noch
nicht abzubauen ist, diesen doch mate¬
riell und geistig als Aeußerungsform
des reinen Erwerbsstrebens und seines
Machthandelns zu überwinden.
Ein Streik im Jahre 1538
Etienne Dolet hat durch seine
sprachwissenschaftlichen Werke viel
zu der Entwicklung der französischen
Kultur beigetragen und es ist außer
Zweifel, daß sein revolutionärer
Geist die Gedankenfreiheit vorbe¬
reitet hat. Er kämpfte gegen den
Fanatismus, gegen Dummheit und
Aberglauben, gegen die Auswüchse
er sozialen Vorurteile mit einem
seltenen Mut und half mit am Fort¬
schritt und Glück der Menschheit.
Dolet war das universale Bewußt-
sein seiner Epoche, und er war Geg¬
ner der politischen, sozialen und
religiösen Unduldsamkeit.
Er kritisierte die Verwaltung, die
Mächtigen und die Tyrannen mit
so viel Feuer, daß er ihr größter
Feind wurde und verachtete die
Kleinmütigen, Feigen und Zaghaften
unter seinen Zeitgenossen. Diese
schöne Gestalt der französischen
Renaissance war ein Humanist, ein
Agitator und ein Tatmensch, mit
einer großen Liebe zum Recht der
Unterdrückten, die sein Lebensin¬
halt war.
Im Jahre 1538 legten in Lyon die
Druckereiarbeiter die Arbeit nieder,
weil die Arbeitgeber die Forderung
auf Lohnerhöhung und bessere Er¬
nährung zurückwiesen. Dieser Streik
unter Dolels Führung war so mäch¬
tig. daß er das ganze Lyoner Gebiet
revolutionierte und einen unaus¬
löschlichen Einfluß auf das soziale
Leben ausübte. Dolet lehnte sich
gegen alle Formen der Unter¬
drückung und des Egoismus auf.
Ohne Sorge um seine' Zukunft und
sein Leben warf er sich in den
Kampf, nur geführt von dem liefen
Rechtsinn eines Verteidigers der
Arbeiter.
ln Versammlungen proklamierten
die Streikenden, daß sie nicht eher
die Arbeit aufnehmen würden bis
ihnen Befriedigung gewährt würde.
Um diese Bewegung zu ersticken,
wurden die Streikenden von der
königlichen Justiz verfolgt und in¬
haftiert. Die Lage zwang schließlich
den König Franz, ein Dekret heraus¬
zugeben, das die Bedingungen der
Arbeiter ein wenig milderte. Aber
die Arbeitgeber protestierten gegen
die Beschlüsse des Königs und droh¬
ten Lyon mit ihren Druckereien zu
verlassen. Franz der 1. nahm uni er
dem Druck der Arbeitgeber das Ge¬
setz zurück und stellte den alten
Zustand durch ein Reglement wieder
her, in dem es heißt, dal) es dem
Arbeiter verboten sei, sieh zusam-
menzusehlicssen und eine gemein¬
same Streikkasse zu besitzen. Sie
durften die Werkstätten nicht mehr
verlassen ohne ihre Arbeit erfüllt:
zu iiaben.
Trotzdem setzten die Arbeiter
ihren Kampf fort. Ein neues Dekret
befahl die Unterdrückung der Be¬
wegung, aber nichts mehr konnte die
Arbeiter entwaffnen. Sie erhoben
sich in Massen und endlich gaben
die Arbeitgeber nach. Fünf Jahre
hatte der Kampf gedauert und am
1. Mai 1543 wurde ein Uebereinkom-
men unterzeichnet, daß den Forde¬
rungen der Arbeiter stattgab.
Dolet aber wurde verhaftet, weil
er die Druckereiarbeiter gegen die
allmächtigen Arbeitgeber unterstützt
hatte. Fünfzehn Monale saß er, der
die Freiheit so lieble, im Gefängnis,
weil er mehr das Leben der Arbei-
1er liebte als das seine.
Die Inquisitoren und Fanatiker
klagen ihn der Ketzerei an. Er
wurde gehängt und verbrannt. Er
zxägte sieh am Galgen groß und sl-o!z
wie ein Held des modernen Ge¬
dankens, der nichts zu bedauern und
nichts zu verneinen hat.
Verurteilt wurde er. weil er die
Wahrheit liebte und weil die Frei¬
heit sein Daseinszweck war. Er
starb, weil seine Intelligenz mul
seine Bestrebungen der Zeit voraus¬
geeilt waren. Hartnäckiger Vertei¬
diger der Unterdrückten, so bleibt
Dolet durch die Jahrhunderte ein
lebendiges Beispiel von Mut und
Großherzigkeit.
Eine Wallfahrt zu Emile Zola
Vor dem Krieg unternahmen die
Verehrer von Emil Zola alljährlich
an seinem Todestag, am 29. Septem¬
ber, eine Wallfahrt zu seinem Wohn¬
haus in Medan, unweit Paris. Der
Krieg hatte diese Tradition unter¬
brochen, und in diesem Jahr trafen
sich die überlebenden Freunde und
Getreuendes großen naturalistischen
Schriftstellers zum erstenmal wieder
an seinem 44. Todestag zu einer
Feierstunde vor dem Landhaus, das
die Witwe Zolas der öffentlichen
Wohlfahrt als Kinderheim vermachte.
Zola hat in diesem Haus einen gro¬
ßen Teil seiner Romane geschrieben
und die bedeutendsten Persönlich¬
keiten der französischen Literatur- 1
und Geisteswelt seiner Epoche zum
Besuch empfangen. Von hier aus
führte er auch den Kampf für die
Rehabilitierung des ^verurteilten
Dreyfus mit der Veröffentlichung
seiner berühmten Streitschrift „J ac-
ruse“ (Ich klage an).