Full text: Evangelisches Wochenblatt (28.1901)

— 
völligem Verzicht auf ein Wirken nach außen sich bereit 
und fertig zu machen für die Ausrichtung des Großen, 
das ihm bevorstand, — wir würden es begreiflich 
finden. Aber Jesus kann an keinem Jammer vorbei⸗— 
kommen, besonders wenn so großer Glaube ihn zur 
Hilfe herausfordert. Und so ist auch jetzt sein Herz 
sofort bereit, zu dem Blinden zu Jericho sein königlich 
großes Wort: „Sei sehend! Dein Glaube hat dir ge— 
holfen“ zu sprechen. Ueber dem Großen, dem Blick 
ins Weite und Ferne, läßt der Herr nicht das Kleine, 
das Nächstliegende aus dem Auge. Er ist der Heiland 
der Welt, aber er bleibt auch der Heiland jeder ein— 
zelnen Seele; denn in der Rettung des einzelnen 
vollzieht sich ja ein großes Heilandswerk an uns. Zieht 
in der Passionszeit der Herr in seiner heldenhaften 
Liebe im Geist an uns vorüber, erweckt er vor allem 
in unsern Herzen die anbetende Betrachtung, daß es 
sich handelt um das Heil der ganzen Sünderwelt, so 
soll doch auch in jeder einzelnen Menschenseele der 
sehnsüchtige Ruf nach dem Heil nicht verstummen, 
sondern erst recht geweckt werden! Die Größe der 
Liebe Jesu ist gerade darin offenbar, daß auch der 
Geringste nicht vergeblich an sein Erbarmen sich 
wendet. Amen. 
Wohin? 
Von M. Eitner. 
Fortsetzung.) 
II. 
Es geschah, wie der Hausherr es anscheinend 
scherzend, dennoch im Ernst, angeordnet hatte. 
Als er von seinem Ritt heimkehrte und im Korridor 
seinem Zimmer zueilte, kam Harden ihm entgegen. 
Seine Augen schienen zu brennen. 
„Bodo,“ sagte er, „ich glaubte, verzaubert zu sein. 
Du ahnst nicht, wie viel Zeit vergangen ist, seit ich 
auf solchem Lager ruhte, wie mir in deinem Hause 
geboten wird. Ich habe dann mit dir zu reden. Du 
mußt wissen, mit wem du zu thun hast, ehe der Abend 
herankommt!“ 
„Gut, alter Junge! Wir gehen dann zusammen 
in den Park. Gleich werden wir zum Kaffee gerufen 
werden. Entschuldige mich nur bis dahin! Ein Ritt 
durch Feld und Wald hinterläßt Spuren am äußeren 
Menschen, die nach einer befreienden Bürste ver— 
langen.“ 
Herr von Weber fand noch Zeit, seiner Frau zu 
sagen, daß sie ihn nach dem Kaffee allein mit dem 
Gast lassen möchte. 
Harden saß still am Kaffeetisch. In dem ver— 
lebten Gesicht mit den schwarzen unrnhigen Augen lag 
jedoch ein Ausdruck, als möchte er lieber aufspringen 
und forteilen, anstatt hier so still zu sitzen. 
„Komm', wir gehen jetzt mal in den Park!“ sagte 
Weber zu ihm, als Hilde das letzte, für sie bestimmte 
Stückchen Kuchen in den Mund gesteckt hatte „Du 
kennst ja meine Besitzung, das Stammqut der Familie 
meiner Frau, noch nicht.“ 
Die Herren entfernten sich und Weber nahm 
Harden's Arm. Verwundert blickten die Leute des 
Schlosses dem Paare nach. Wie stach der Fremde 
doch gar so sehr gegen den Herrn ab! Der alte 
Johann sprach zu Gunsten des Gastes. „In dem 
muß was stecken!“ sagte er. „Unser Herr fährt doch 
am besten in der ganzen Gegend, aber der Fremde, 
fachdruck verboten.) 
— hei, der fährt ja wie der leibhaftige Gottseibeiuns 
Unsere Hengste haben sich wohl noch nie unter dem 
v eines Lenkers so ohnmächtig gefühlt wie hen⸗ 
rüh.“ 
Hilde war den Herren nachgeeilt. 
„Will ein Stückchen mitgehen, Papa, nicht wahr 
ich darf?“ flüsterte sie. 
„Ja, Kind, bis zur Bank bei „Irmas Ruh'“!“ 
Dort angekommen, setzten sich die Herren. Weber 
sagte zu seiner Kleinen: „So, nun lauf', Liebling 
un Maiglöckchen, die Mama sehr liebt, und bring⸗ 
ie ihr!“ 
Das Kind entfernte sich. 
„Jetzt, Edwin,“ begann Weber, „jetzt sage mir, 
wie es kam, daß du für mich so ganz verschollen 
bliebst, seit ungesühr fünf Jahren nach der Ueber— 
nahme deines vaͤterlichen Gutes! Ich war Administrator 
bei meinem späteren Schwiegervater. Mir blieb wenig 
Zeit. Brieflich habe ich nach dir geforscht, ohne jedock 
etwas zu erfahren.“ 
„Das war ein Glück für mich und für dich, Bodo. 
Ich habe nichts zu beschönigen, da der Erfolg meines 
Lebens ja auf meinem Gesicht geschrieben steht. Du 
sollst alles wissen. Nach dem Tode meiner Mutter 
geriet ich in schlechte Hände, die sich wohl meine 
Jugend zu nutze machten, doch ich widerstrebte gar 
nicht. Bald war ich ein Spieler, ein Säufer und 
noch viel Schlimmeres. Oft genug wollte ich mir, 
wie ein erbärmlicher Feiglin;, der keine Kraft hat, sich 
aufzuraffen, eine Kugel durch das Hirn jagen, doch 
immer wieder unterließ ich es. Mein Vermögen habe 
ich durchgebracht. Ich dachte dann, wenn ich nach 
Amerika ginge, könnte vielleicht dort, unter ganz 
anderen Verhältnissen, noch etwas Besseres aus mir 
werden. Doch bewahre! Ich bin zurückgekehrt als 
derselbe, der ich gegangen war, dem nichts heilig war, 
der kein edles Streben mehr kannte. Ich lebte das 
frühere Leben weiter, das nun ja sein Ende finden 
muß“ .... 
„Halt, Edwin!“ unterbrach Herr von Weber, „du 
redest wie im Fieber. Da warst der vergötterte Sohn 
deiner WMutter, deren ganzes Sein schon hier auf 
Erden durch so viel Leid und Krankheit verklärt und 
durchgeistigt war. Solltest du so ganz vergessen haben, 
wie stolz sie auf dich war, wie sie, wenn ich zu den 
Ferien war, immer auf dich hinwies und sagte: 
Wenn ich einmal nicht mehr bin, so wird mein 
Sohn ein würdiger Vertreter unseres Namens sein?“ 
„Meine Mutter hat sich getäuscht. Sie würde sich 
nicht sehr gefreut haben, wenn sie gesehen hätte, wie 
ich am Spieltisch die Nächte zum Tage gemacht, alles 
verbracht, und“ ... 
„Warum hast du nicht geheiratet?“ unterbrach 
Weber wieder. „Ein edles Frauengemüt kann zur 
rechten Zeit den Mann noch auf rechte Fährte bringen.“ 
„Zur rechten Zeit!“ rief Harden, sprang auf und 
schritt, von dem Freunde gefolgt, den Parkweg entlang. 
„Für mich war der rechte Zeipunkt verloren. Ich 
hatte zu oft gesehen, wie die Mütter nach Männern 
antzeln für ihre Töchter, um schließlich zwei Menschen 
elend zu machen. Ich habe noch anderes gesehen und 
erlebt. Laß mich schweigen von den Lasterwegen, auf 
denen ich gewandert bin! Ich bin es dir jrdoch 
schuldig, dir das anzudeuten, damit du nicht im Un— 
gewissen über deinen einstigen Freund bleibst.“
	        
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