Full text: Evangelisches Wochenblatt (28.1901)

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gebrechlicher, hat nicht Frau mehr noch Kind; zuletzt 
sitzt man verlassen und einsam, wenn man die Pflege am 
nötigsten braucht.“ „Aber Meister Dreier, dafür lassen 
Sie doch Gott sorgen; seien Sie lieber dankbar, daß Sie 
bis jetzt noch recht munter, und gar nicht hilflos sind! 
Wissen Sie was? Kommen Sie heute Abend mit her— 
auf; ich habe Hüte und Garnituren ausgetragen und 
hübsch was eingenommen, da brachte ich etwas Choko— 
lade mit. Die Mutter trinkt so gerne eine Tasse Choko— 
lade, aber so was trinkt man nicht alleine. Schüttchen 
(Erfurter Name für Weihnachtsstollen) haben wir auch 
noch; nicht wahr, Sie kommen?“ „Na, denn ja! wenn 
Sie nicht anders wollen.“ 
Louison hatte die Filzschuhe ausgezogen und sprang 
die beiden Treppen behende hinauf. Die Frau Marquise 
hatte schon Licht. Sie saß mit einer feinen Arbeit bei 
einer einfachen Lampe und nickte freundlich der Tochter 
zu, die mit wahrem Behagen das Bild überblickte, das 
vor ihr lag. Es war kein elegantes Stübchen; das meiste, 
was darin war, stammte aus vergangenen Zeiten, aber 
sowohl über die Wohnung, als über die alte Frau unter 
der blütenweißen Haube mit dem breiten durchzogenen 
Streifen war eine gewisse Zierlichkeit und Eleganz aus— 
gegossen, die nicht in den Stoffen und Möbeln, sondern 
in ihrer Anordnung lag. Die vielfach fein gestopften 
Mullgardinen waren in die regelrechtesten kleinen Fält— 
chen gesteckt und von dem blendendsten Weiß; und über 
dem Sofa hing eine Guitarre an einem so schön ge— 
stickten Bande, daß es ein wahres Kunstwerk zu 
nennen war. 
„Guten Abend, Mütterchen! Sie waren alle recht 
zufrieden, und denke nur, sie zahlten gleich; da habe ich 
ein paar Tafeln Chokolade mitgebracht und den alten 
Dreier zum Abendbrot gebeten, solchen Luxus macht man 
doch nicht für sich allein!“ 
„Gewiß nicht“, sagte die Alte freundlich; „nun lege 
nur deine nassen Sachen ab, und dann bereite dein 
Getränk.“ Ersteres war schon geschehen. „Nun muß 
ich aber erst noch zu Weißflogs; Linchen wollte auf den 
Splvesterball, und ich sollte ihr die Haare machen.“ 
Bei Weißflogs war so aufgeregte Unterhaltung, daß 
man erst nach mehrmaligem Klopfen: „Herein!“ rief. 
Mitten im Zimmer stand Linchen in Thränen gebadet, 
und die Mutter rannte um sie herum und schien den Ball— 
staat, der noch hier und da umherlag, in den Schrank 
zu schließen. 
„Bemühen Sie sich nicht, Louison, es wird nichts.“ 
„Ist Jemand krank, Frau Weißflog?“ 
„Ne, krank ist keiner, bloß wieder mein Alter hat 
Schuld. Drüben von As schicken sie mir den neuen Um— 
hang und für Linchen Schärpe und Kranz; da wird er 
wütend: „Nehmen Sie das gleich wieder mit, ich habe 
kein Geld für solchen Trödel; entweder ihr geht in den 
alten Sachen oder ihr bleibt, wo ihr seid.“ No, ja, 
das ärgerte mich nicht schlecht und ich setzte einen Trumpf 
drauf und wollte recht behalten; und da wurde es 
schlimmer. Er ist nun ohne uns fort, nicht zum Balle, 
sondern in seinen Klub, und ich habe mich verschworen 
im Zorn, ich wollte nun keinen Schritt aus dem Hause 
gehen, und jetzt heult das Mädchen, und wir blasen nun 
den ganzen Abend Trübsal.“ 
„Wissen Sie was, Frau Weisflog; beinah getrau ich 
mich nicht, es zu sagen: kommen Sie mit zu uns; der 
alte Dreier kommt auch. Wenn das nun auch eigentlich 
nicht Ihre Gesellschaft ist, Frau Sekretär, so ist es doch 
besfer, als hier alleine unglücklich sein, und Dreier ist 
doch ein sehr ordentlicher, achtbarer Mann.“ Die Ein— 
ladung wurde angenommen, und eine Stunde später 
saßen sämtliche Hausgenossen vergnügt im warmen 
Slübchen der Frau Marquise, bei sehr einfachen Schütt— 
hen und ebenso einfacher Chokolade. „Nun, Gevatter 
Dreier, was macht Ihr Neffe Wilhelm?“ Ich denke 
wohl, gut! Er schreibt von einem Geschäft, das er an— 
nehmen will; ich denke, da sitzt eine reiche Meisterstochter 
dahinter; ein so hübscher Kerl, wie der, kann schon An— 
prüche machen! „Hm“, sagte Frau Auer. Louifon ging 
nach dem Ofen und setzte die Chokolade warm. 
„Freilich“, sagte die Frau Sekretär seufzend, „Geld 
ist die Hauptsache; wenn man keins hat, davon kommt 
der meiste Zank zwischen den Eheleuten.“ „Daran liegt's 
nicht, Frau Sekretär“, sagte die alte Frau Auer; „manch— 
mal, wo Geld und Gut die Hülle und Fülle ist, giebt's 
keine glückliche Stunde, und wo sich die Leute recht plagen 
müssen ums tägliche Brot, da ist Friede und Freude. 
Sehen Sie, ich habe mir für heute Abend was ausgedacht, 
penn's Ihnen recht ist; es ist eine Handschrift da von 
meiner seligen Mutter, die hat meine Großmutter, die 
Frau Marquise, französisch diktiert, und weil meine liebe 
Mutter wußte, daß ihre Kinder doch nur deutsch sprechen 
würden, so hat sie es deutsch aufgeschrieben, wollen Sie 
es hören? ich meine, es kann Jeder was draus nehmen.“ 
Freilich wollten sie es hören; sie hätten lange schon 
gern gewußt, was es eigentlich mit der Frau Marquise 
für eine Bewandtnis hatte, und als Louison noch einmal 
Schüttchen herumgegeben und noch eine Tasse Chotolade 
eingeschenkt hatte, saßen sie alle und lauschten wie die 
Mäuschen. 
(Fortsetzung folgt.) 
Die 54. Hauptversammlung 
des Gustav Adolf Vereins in Köln. 
1. -3. Ottober). 
E”dhluß.) 
An den Gottesdienst, der wieder das schöne und ge— 
räumige Gotteshaus bis in alle Gänge hinein gefüllt 
hatte, schloß sich nun von 12 bis 3 Uhr die erste öffent— 
liche Hauptversammlung im Vereinshause, auf deren 
Tagesvordnung die Eröffnungsansprache durch den Vor— 
sißenden Geh. Kirchenrat Pank, ein Vortrag aus dem 
Jahresberichte des Centralborstandes durch den Schrift— 
führer desselben, Pfarrer A. Hartung aus Leipzig, und 
Mitteilungen seitens sonstiger Abgeordneter und Gäste 
standen. In ausgezeichneter, klarer und darum auch des 
lebhaftesten Beifalls nicht entbehrender Weise entwickelte 
der Vorsitzende gewissermaßen das Programm des Ver— 
eins, er stellte der bekannten Gröberschen Rede in Osna— 
brück die evangelische Auslegung des altehrwürdigen Be— 
kenntnisses: „Ich glaube an eine heilige allgemeine christ— 
liche Kirche“ entgegen und beleuchtete namentlich ein— 
gehend die so hoffnungsreiche und viel angefochtene öster— 
reichische Bewegung. Der Jahresbericht konnte über die 
Verluste bei der Leipziger Bank beruhigende Mitteilungen 
geben. Die Zahl der Zweigvereine hat sich im letzten Ge— 
schäftsjahre von 1918 auf 1826, die der Frauenvereine 
von 590 auf 640 vermehrt. Die Gesamteinnahmen im 
Rechnungsjahre 1900 beliefen sich auf 2170 358 Mart 
gegen 1897 842 Mart im Vorjahre, während die Ver— 
wendungen 1637 881 Mark, 198 479 Mark mehsr als im 
Vorjahre betrugen. An Legaten und Stiftungen erhielt 
die Centralkasse 12 im Betrage von 133 219 Mark, die 
Einzelpereine 106 im Betrage von 126 004 Mark. Unter 
den Abgeordneten und Gästen, die in der Hauptversamm— 
lung Mitteilungen aus ihren Wirkungskreisen brachten, 
nennen wir den evangelischen Bischof Dr. Baldik aus 
Ungarn, den Vertreter der siebenbürgischen Landeskirche 
Dr. Teutsch, den Konsistorialdirektor von Wagner aus 
Speyer, den Generalsuperintendenten Hesekiel aus Posen, 
Pfarrer Fliedner den jingeren aus Madrid u. a.
	        
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