Full text: Evangelisches Wochenblatt (28.1901)

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Gottes, daß der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes 
Werke, allein durch den Glauben an den getkreuziglen 
und auferstandenen Heiland, und daß wir keinen mensch— 
lichen Mittler und keinen Vertreter unserer Gebete aim 
Throne Gottes nötig haben, sondern daß er selbst, der 
Vater, uns lieb hat, und wir zu ihm reden dürfen, wie 
die lieben Kinder ihren lieben Vater bitten, — daß wir 
keinen Stellvertreter Christi auf Erden haben sollen, 
sondern daß einer unser Meister ist, Christus, einer unser 
König, der, dem alle Gewalt im Himmel und auf Erden 
gegeben ist, und wir alle seine Diener, ein auserwähltes 
Geschlecht, ein königliches Priestertum, ein heiliges Volk, 
— daß uns das Wort seines Mundes gegeben ist, nicht 
als ein besonderes Eigentum der Diener am Worte, son— 
dern, daß es in deinen Händen und an deinem Herzen 
sei, dein Wegweiser und dein Tröster, — daß wir rein 
und unverfälscht die Sakramente unsers Herrn und Hei— 
landes haben sollen, weil er sie bei feinem Tode und' bei 
seiner Himmelfahrt als seine Testamenie eingesetzt und 
hinterlassen hat. 
Gedenke an deine Lehrer! Wären sie nicht gewesen, 
so ständest du vielleicht heute nech im Bann der Menschen— 
satzung, mühtest dich mit äußerem Werk der Gerechtig⸗ 
keit, deiner Seele Frieden zu schaffen vor der Anklage 
des Gewissens, riefest neben und über dem lebendigen 
Gott Menschen an, von denen du nicht wissen kannst, 
ob sie dich hören. Darum, gesegnet sei das Andenken 
derer, welche uns sein Wort gesagt haben; gesegnet sei 
von Geschlecht zu Geschlecht das Andenken unserer geist— 
lichen Väter! Wer sich des Wortes seines Gottes freut, 
wem es in den Nöten seines Gewissens, den Trübsalen 
seines Lebens mit seinem köstlichen Troste herrlich und 
licht geworden ist, — wer die große Herrlichkeit evange— 
lischen Glaubens, in dem wir Gott als die Freien dienen 
dürfen, auch nur von ferne erkannt hat, der danke Gott, 
daß er uns solche Lehrer gegeben hat, die uns das Wort 
Gottes gesagt haben. Und lasset uns Gott von Herzen 
bitten, daß er „seines Wortes Licht bei uns lasse ver— 
löschen nicht, daß wir sein Wort und Sakrament rein be— 
halten bis an unser End'!“ 
Freilich, jedes Fest, wenn es anders etwas taugen 
soll, will mehr sein als eine bloße Erinnerung. Ge— 
denken heißt, sich die Vergangenheit im Herzen lebendig, 
sie wieder zur Gegenwart machen; wenigstens das, was 
aroß, was gottgewirkt, was ewig in ihr war, dem leben— 
den Geschlecht erneuern. Unser Text fährt fort: Welcher 
Ende schauet an, und folget ihrem Glauben nach. Das 
Wort, das sie der Welt sagten, war Leben in ihnen selbst. 
Wie hätte es sonst Leben schaffen können? Ihr Glaube 
war die treibende und bewegende Kraft ihrer Seelen. In 
diesem Glauben haben sie gelebt, gestritten, gelitten, in 
diesem Glauben sind sie gestorben. Dem folget nach! 
Seid ihr evangelische Christen, so glaubet an das Evan— 
gelium, und wandelt so, daß das Evangelium nicht nur 
mit eurem Munde, sondern durch eure That verkündigt 
wird. Ist euch das Wort Gottes gesagt und gegeben, so 
sucht nicht Meister mehr als dies ewige Licht seiner künd— 
lich großen Offenbarung. 
O, meine Lieben, wo ist nun das Geschlecht, das nach 
ihm fraget? Muß nicht in der Lauheit unserer Zeit, in 
dem Abfall der Massen vom Glauben das Reformations— 
fest zum Propheten werden, der da klagt: Ich habe wider 
dich, daß du die erste Liebe verlässest? Muß es nicht 
daran erinnern, daß evangelisches Christentum nicht bloß 
darin besteht, daß man von Rom und seiner nach Welt— 
herrschaft begierigen Kirche sich abwendet und nichts von 
ihr wissen will, sendern vorerst und hauptsächlich darin, 
daß man des Glaubens seiner Väter würdig, im Glauben 
stark, in der Liebe feurig ist und in der Hoffnung der zu— 
künftigen Herrlichkeit wandelt? 
— 
Zion, du Predigerin, steige auf einen hohen Berg! 
Jerusalem, du Predigerin, hebe deine Stimme auf mit 
Macht! Sage der evangelischen Christenheit: Schauet an 
das Ende eurer Väter, und folgei ihrem Glauben nach! 
Erwache unter uns, du Geist der ersten Zeugen, daß sie 
sich sammeln, die Kinder des Lichts, zu der Kreuzes⸗ 
fahne ihrer Erlösung und ihres Sieges, und im Glauben 
die Welt überwinden, die mit Unglauben und Aberglau⸗ 
ben diejenigen zu verführen sucht, welche Christus euer 
erkauft hat. Erwecke, Herr, unser Gott, die heilige Kraft 
der Treue, daß wir wie die Väter, unsers Glaubens froh 
und bewußt werden, und wenn es sein muß, in den 
Wirren und Stürmen der bösen Zeit uns dessen trösten, 
daß, was sie uns auch rauben können, das Reich Gottes 
unser bleiben muß, und in dem Reiche Gottes unser Ge— 
wvinn allerwege größer ist als der Verlust. Herr, Herr, 
segne uns und behüte uns! Halte uns bei deinem Wort, 
daß dein Wort uns erhalte in frohen und trüben Zeiten, 
im Leben und im Sterben, in Zeit und in Ewigkeit. 
Dies Gebet sei die tägliche Frucht unsers Gedenkens, und 
Gott sage Amen! 
Die Frau Marquise. 
Von L. Walther. 
(Nachdruck verboten.) 
Das alte Jahr schien sehr betrübt darüber zu sein, 
daß es von der viel älteren, zur Zeit unserer Ge— 
schichte noch mit Wällen, Thoren und Türmen eng ein— 
Jeschlossenen Stadt Erfurt Abschied nehmen sollte. Das 
Wetter machte ein sehr verdrießliches Gesicht, der Sturm 
fegte den Schnee in hohe Haufen, und dennoch wurde 
nirgends eine Stelle leer; denn unaufhörlich sank der 
weiße Flaum hernieder. Wem's möglich war, der blieb 
in seinen vier Pfählen, wer hinaus mußte, hüllte sich in 
Pelz und Kapuze. Da, zwifchen Tag und Dunkel eilte 
zin junges Mädchen durch die Straßen, dessen muntere 
Augen und gerötete Wangen gar lieblich hervorleuchteten 
aus dem braunen Tuche, mit dem ihr Köpfchen umhüllt 
war. Sie trug einen großen, schneeweißen Deckelkorb, 
der aus Vorsicht noch mit einer Wachstuchhülle umgeben 
war. Manches Auge sah ihr nach, wie sie so geschickt sich 
die besten Stellen aussuchte, und so unbeirrt vom Sturm 
und Schnee dahinzugleiten schien, als wäre der schönste 
Sonnenschein. Sie trat jetzt aus dem hell erleuchteten 
Flur eines schönen, großen Hauses. „Fertig“ sagte sie, 
ind wendete dann ihre Schritte einer stilleren, weniger 
ansehnlichen Stadtgegend zu. Wir sehen sie in einem 
chmalen, hohen Hause verschwinden, das zwei Stockwerke 
iber dem Parterre besaß. Es war das eigene Haus des 
Schuhmacher Dreier, der unten seine Werkstatt. Wohn— 
uind Schlafstube hatte. 
Eine Treppe hoch wohnte der Herr Sekretär Weißflog 
mit Frau und Tochter; er hatte eine größere Wohnung, 
da ein Waschhaus und Holzstall überbaut waren, und 
zwei Treppen hoch, ja, da wohnte die Frau Marquise. 
Eigentlich war's die Witwe des Lehrer Auer; aber die 
zanze Nachbarschaft gab ihr jenen hohen Titel, und zwar 
nicht im Spott — man haitte sie gerne, nein, einfach aus 
dem Grunde, weil ihre Großmutter eine wahre und wahr— 
haftige Marquise gewesen war, und die Erinnerung an 
diese hohe Ahnfrau noch sehr hereinspielte in das Leben 
ihrer Enkelin. Die Tochter der Marquise, Louison Auer, 
war eben jenes freundliche Mädchen, das wir ins Haus 
treten sehen. 
„Guten Abend, Meister Dreier; noch kein Licht?“ 
„Was soll ich mit Licht, zu meinen Gedanken paßt die 
Dunkelheit besser.“ „Leuchten die schon genug?“ fragte 
das junge Mädchen heiter. „Ja, da leuchtet sich's was! 
Ein Jahr geht nach dem andern hin, man wird immer
	        
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