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Montag reiste er, Freitag hoffte er wieder zu kom⸗
men. Jungfer Regine hatte sein Stübchen schneeweiß ge—
scheuert, die Fenster geputzt und reine Vorhänge aufge—
steckt; nun stand sie gedankenvoll an seinem Schreibtische,
den sie zum hundertstenmal abputzte. Aus einer alten
gelbledernen Schreibmappe sah sie ein beschriebenes Pa—
pier hervorlugen. Sie war auch Evas Tochter; er hatte
gesagt, er wolle schreiben für den Druck; vielleicht konnte
sie es jetzt erfahren, was es war:
„Die allerwichtigsten Begebenheiten der Welt.“
„Jetzt kommt der große Friedrich!“ dachte sie. Nein,
Regine; die Fortsetzung hieß:
„Das Leiden und Sterben, die Auferstehung und
Himmelfahrt unseres Herrn und Heilands Jesu Christi.“
Sie sah nun wohl, daß er ein Passionsbüchlein zu—
sammengestellt hatte für seine Gemeinde Oldenhausen.
Ja, so ehrlich war sie, zu bekennen, das ginge doch noch
höher hinauf und tiefer hinab als der große König
Friedrich. Fast mit Beschämung schob sie es in die
Mappe hinein; gewiß hatten sie ihn gefangen oder gepreßt
oder totgeschlagen! Sie hatte Thränen in den Augen,
als sie die Treppe hinabging. Da stand er plötzlich vor
ihr. So schnell konnte sie sich nicht besinnen, wie sie aus—
sehen mußte, das reinste Glück strahlte aus ihren Augen:
„Ach, Gott sei Dank, daß ihr heil wieder da seid!“ Er
sagte nichts, aber er sah sehr vergnügt aus; er dachte:
„Rasch ist sie, und rasch mag sie leiden, ich wage es!“
Als er am Sonntagmorgen herunter kam, sagte er mit
erregter Stimme: „Herr Kollege, hätten Sie etwas da—
gegen, wen ich mich heute mit ihrer Jungfer Tochter auf—
bieten thäte?“ Der alte Herr strahlte: „Nein, Herr
Kollege, bieten Sie sich mit meiner Jungfer Tochter auf!“
„Wollen Sie die Jungfer Tochter nicht vorher fragen?“
„Fragen? wäre neue Mode, aber erfahren soll sie es
gleich.“ Sie stand da bald rot, bald blaß und ihre
Thränen flossen: „So, ohne mich auch nur zu fragen? das
ist doch zu arg, ich habe nie gesagt, daß ich Lust zum
Heiraten habe!“ Da holte Pastor Knote aus, und gab
seinem Kinde eine schallende Ohrfeige. „Herr Kollege,
bieten Sie sich mit meiner Jungfer Tochter auf!“ Sie war
weggelaufen; er stand wie auf Kohlen; Mitleid, Sorge
und Angst bewegten sein Herz. Unterm großen Birn⸗
baum fand er sie :,Jungfrau, wollet ihr auch, sonst ist es
gar zu schwer.“ Sie sah ihn nicht an: „Muß ich nicht,
wenn der Vater will?“ Da ging er getrost und sie
zögernd, denn es war damals Sitte, daß eine Brant zur
Kirche ging, wenn sie aufgeboten wurde. Freudiges
Flüstern ging bei dem Aufgebot durch die ganze Kirche,
als Reinhold aber so aus tiefster Seele für sich und seine
Erwählte betete, da blieb kein Auge trocken, auch Reginens
nicht, die in der Tiefe des Pfarrstuhles saß. Im Pfarr—
gärtlein traf er sie: „Wollet ihr nun auch gerne, Jungfer
Regine?“ „Ja, Herr Adjunktus, lieber als ihr es dentt!“
„Dann wird auch Gott wohl seinen Segen geben,“ Und
er hat ihn auch reichlich gegeben; Oldenhausen weiß noch
davon zu sagen, und das Passionsbüchlein hat nicht nur
in Oldenhausen, sondern auch in den Nachbarorten die
Leute erbaut bis über die Mitte dieses FJahrhunderts.
Gine geführdete Feste im Reichslande.
In den ersten Jahren der Revolution stand auf dem
Marktplatze von Metz ein Scheiterhaufen und auf dem—
selben war am Schandpfahle ein Wollweber festgebunden.
Schon brannte das Holz, da hörte die schaulustige Menge
eine helle Stimme, die in lateinischer Sprache die Worte
des 115. Psalmes sang: „Nicht uns, Herr, nicht uns, son—
dern deinem Namen gieb Ehre! ... Ihre Götzen sind
Silber und Gold, von Menschenhänden gemacht ... sie
haben Mäuler und reden nicht und Ohren und hören
richt ... die solche machen sind gleich also .....“
Während der Henkersknecht mit einer eiserner Zange
einen Feten Fleisch nach dem anderen von des Märtyrers
Leibe herabriß, die Flammen gen Himmel loderten und
bereits der Schmerz und die Glut die Stimme des Sän—
gers dämpften, konnte man noch weiter die Worte ver—
nehmen: „Aber die den Herrn fürchten, hoffen auf den
Herrn, ... der Herr denket an uns, ... er segnet,
die ihn fürchten!“ — Was damals der Wollweber von
seiner brennenden Kanzel herab in die alte Bischofstadt
hinein prophezeite, das ist heute in Erfüllung gegangen;
und wenn es ihm vergönnt wäre, jetzt seine engere Heimat
zu durchwandern, dann würde sein Herz vor Freude
ipringen. Wer in unseren Tagen von den waldigen, von
den Schlachten um Metz blutgetränkten Hügeln, die
Frankreich von Lothringen trennen, herabsteigt, der er—
oͤlickt zwar inmitten des bunten Häusermeeres, das auf
hbeiden Ufer der Mosel im Sonnenschein gelagert ist, die
alles überragende alte großartige römisch-katholische
Kathedrale, die ehedem wie auch heute noch gleich einer
Burg eines engherzigen Gottesglaubens die Feste über—
ragt, aber vor derselben bemerkt das Auge die zierliche
Spitze des Thurmes der evangelischen Garnisonkirche sich
sröhlich in die blauen Lüfte erhebend. Nicht weit davon
nmitten grüner Bäume errichten emsigeHände ein zweites
herrliches evangelisches Gotteshaus. Seine Pläne hat
Niemand geringeres als Kaiser Wilhelm II. selbst gründ—
lich geprüft und gut geheißen. Gott hat das Metzer Land,
das die Reformation so frendig begrüßt hatte, das unter
Ludwigs XIV. Regiment jedoch ihre herrlichen Früchte
dollständig zu Grunde gehen sah, so daß man nur ängst—
sich in Höhlen und Wäldern seinen Gottesdienst abhalten
konnte, im 19. Jahrhundert sichtlich gesegnet. Er hat
darinnen eine evangelische Gemeinde aufwachsen lassen,
die mit jedem Jahre an Kraft und Ausdehnung zunimmt
und die in ihrer Art vielleicht die lieblichste Frucht der
Iroßen blutigen Kämpfe der siebziger Jahre genannt wer—
den darf. Etliche 20 Geistliche sind es, die in dieser Ge—
gend Gottes Wort verkündigen, und 22 Gotteshäuser,
davon allein 16 nach den siebziger Jahren errichtet wur—
den, lassen ihr Glockengeläute am Sonntag in weite
Ferne ertönen.
Aber diesem schönen Bilde steht ein finsterer Schatten
zur Seite. Es heißt in der Schrift, daß, wenn der böse
Geist von Jemandem ausgefahren ist, er dürre Stätten
durchwandele, dann wiederkomme und es mit demselben
Menschen ärger mache als zuvor. So ist es auch in Metz
gegangen. Als der böse Geist der Sünde mit dem
Aberglauben und der Unduldsamkeit nichts mehr an—
fangen konnte und im Meztzer Lande sich vor den vielen
evangelischen Kirchtürmen flüchten mußte, suchte er sich
Helfershelfer für ein anderes Arbeitsgebiet. Er warf
sich jetzt auf die Familie, auf das junge Volk, auf die
Söhne und Töchter und suchte da das Heilige zu ver—
wüsten. Metz ist heute, das darf man ohne Uebertrei—
bung sagen, eine der Städte im deutschen Reiche, in denen
die Unsittlichkeit am tiefsten Wurzel gefaßt hat. Das
ist so gekommen: Während in anderen Garnisonstädten
die Zahl der Soldaten vielleicht den 10. oder 5. Teil der
Bevölkerung ausmacht, zählt Metz eine Gesamtbevölke—
rung von 60 000 Seelen (Zivilbevölkerung 45 000). Die
Garnison selbst beziffert sich auf 26 000 Seelen, wovon
der größte Teil in Metz selbst wohnt, der übrige in den
umliegenden Ortschaften. Das allein schon würde für
Metz eine sittliche Gefahr bedeuten, denn das weiß ja ein
Jeder, daß, wenn der junge Mann in der Garnison das
Gehorchen lernt und sich an äußere Zucht gewöhnt, er ge—