Full text: Evangelisches Wochenblatt (28.1901)

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Montag reiste er, Freitag hoffte er wieder zu kom⸗ 
men. Jungfer Regine hatte sein Stübchen schneeweiß ge— 
scheuert, die Fenster geputzt und reine Vorhänge aufge— 
steckt; nun stand sie gedankenvoll an seinem Schreibtische, 
den sie zum hundertstenmal abputzte. Aus einer alten 
gelbledernen Schreibmappe sah sie ein beschriebenes Pa— 
pier hervorlugen. Sie war auch Evas Tochter; er hatte 
gesagt, er wolle schreiben für den Druck; vielleicht konnte 
sie es jetzt erfahren, was es war: 
„Die allerwichtigsten Begebenheiten der Welt.“ 
„Jetzt kommt der große Friedrich!“ dachte sie. Nein, 
Regine; die Fortsetzung hieß: 
„Das Leiden und Sterben, die Auferstehung und 
Himmelfahrt unseres Herrn und Heilands Jesu Christi.“ 
Sie sah nun wohl, daß er ein Passionsbüchlein zu— 
sammengestellt hatte für seine Gemeinde Oldenhausen. 
Ja, so ehrlich war sie, zu bekennen, das ginge doch noch 
höher hinauf und tiefer hinab als der große König 
Friedrich. Fast mit Beschämung schob sie es in die 
Mappe hinein; gewiß hatten sie ihn gefangen oder gepreßt 
oder totgeschlagen! Sie hatte Thränen in den Augen, 
als sie die Treppe hinabging. Da stand er plötzlich vor 
ihr. So schnell konnte sie sich nicht besinnen, wie sie aus— 
sehen mußte, das reinste Glück strahlte aus ihren Augen: 
„Ach, Gott sei Dank, daß ihr heil wieder da seid!“ Er 
sagte nichts, aber er sah sehr vergnügt aus; er dachte: 
„Rasch ist sie, und rasch mag sie leiden, ich wage es!“ 
Als er am Sonntagmorgen herunter kam, sagte er mit 
erregter Stimme: „Herr Kollege, hätten Sie etwas da— 
gegen, wen ich mich heute mit ihrer Jungfer Tochter auf— 
bieten thäte?“ Der alte Herr strahlte: „Nein, Herr 
Kollege, bieten Sie sich mit meiner Jungfer Tochter auf!“ 
„Wollen Sie die Jungfer Tochter nicht vorher fragen?“ 
„Fragen? wäre neue Mode, aber erfahren soll sie es 
gleich.“ Sie stand da bald rot, bald blaß und ihre 
Thränen flossen: „So, ohne mich auch nur zu fragen? das 
ist doch zu arg, ich habe nie gesagt, daß ich Lust zum 
Heiraten habe!“ Da holte Pastor Knote aus, und gab 
seinem Kinde eine schallende Ohrfeige. „Herr Kollege, 
bieten Sie sich mit meiner Jungfer Tochter auf!“ Sie war 
weggelaufen; er stand wie auf Kohlen; Mitleid, Sorge 
und Angst bewegten sein Herz. Unterm großen Birn⸗ 
baum fand er sie :,Jungfrau, wollet ihr auch, sonst ist es 
gar zu schwer.“ Sie sah ihn nicht an: „Muß ich nicht, 
wenn der Vater will?“ Da ging er getrost und sie 
zögernd, denn es war damals Sitte, daß eine Brant zur 
Kirche ging, wenn sie aufgeboten wurde. Freudiges 
Flüstern ging bei dem Aufgebot durch die ganze Kirche, 
als Reinhold aber so aus tiefster Seele für sich und seine 
Erwählte betete, da blieb kein Auge trocken, auch Reginens 
nicht, die in der Tiefe des Pfarrstuhles saß. Im Pfarr— 
gärtlein traf er sie: „Wollet ihr nun auch gerne, Jungfer 
Regine?“ „Ja, Herr Adjunktus, lieber als ihr es dentt!“ 
„Dann wird auch Gott wohl seinen Segen geben,“ Und 
er hat ihn auch reichlich gegeben; Oldenhausen weiß noch 
davon zu sagen, und das Passionsbüchlein hat nicht nur 
in Oldenhausen, sondern auch in den Nachbarorten die 
Leute erbaut bis über die Mitte dieses FJahrhunderts. 
Gine geführdete Feste im Reichslande. 
In den ersten Jahren der Revolution stand auf dem 
Marktplatze von Metz ein Scheiterhaufen und auf dem— 
selben war am Schandpfahle ein Wollweber festgebunden. 
Schon brannte das Holz, da hörte die schaulustige Menge 
eine helle Stimme, die in lateinischer Sprache die Worte 
des 115. Psalmes sang: „Nicht uns, Herr, nicht uns, son— 
dern deinem Namen gieb Ehre! ... Ihre Götzen sind 
Silber und Gold, von Menschenhänden gemacht ... sie 
haben Mäuler und reden nicht und Ohren und hören 
richt ... die solche machen sind gleich also .....“ 
Während der Henkersknecht mit einer eiserner Zange 
einen Feten Fleisch nach dem anderen von des Märtyrers 
Leibe herabriß, die Flammen gen Himmel loderten und 
bereits der Schmerz und die Glut die Stimme des Sän— 
gers dämpften, konnte man noch weiter die Worte ver— 
nehmen: „Aber die den Herrn fürchten, hoffen auf den 
Herrn, ... der Herr denket an uns, ... er segnet, 
die ihn fürchten!“ — Was damals der Wollweber von 
seiner brennenden Kanzel herab in die alte Bischofstadt 
hinein prophezeite, das ist heute in Erfüllung gegangen; 
und wenn es ihm vergönnt wäre, jetzt seine engere Heimat 
zu durchwandern, dann würde sein Herz vor Freude 
ipringen. Wer in unseren Tagen von den waldigen, von 
den Schlachten um Metz blutgetränkten Hügeln, die 
Frankreich von Lothringen trennen, herabsteigt, der er— 
oͤlickt zwar inmitten des bunten Häusermeeres, das auf 
hbeiden Ufer der Mosel im Sonnenschein gelagert ist, die 
alles überragende alte großartige römisch-katholische 
Kathedrale, die ehedem wie auch heute noch gleich einer 
Burg eines engherzigen Gottesglaubens die Feste über— 
ragt, aber vor derselben bemerkt das Auge die zierliche 
Spitze des Thurmes der evangelischen Garnisonkirche sich 
sröhlich in die blauen Lüfte erhebend. Nicht weit davon 
nmitten grüner Bäume errichten emsigeHände ein zweites 
herrliches evangelisches Gotteshaus. Seine Pläne hat 
Niemand geringeres als Kaiser Wilhelm II. selbst gründ— 
lich geprüft und gut geheißen. Gott hat das Metzer Land, 
das die Reformation so frendig begrüßt hatte, das unter 
Ludwigs XIV. Regiment jedoch ihre herrlichen Früchte 
dollständig zu Grunde gehen sah, so daß man nur ängst— 
sich in Höhlen und Wäldern seinen Gottesdienst abhalten 
konnte, im 19. Jahrhundert sichtlich gesegnet. Er hat 
darinnen eine evangelische Gemeinde aufwachsen lassen, 
die mit jedem Jahre an Kraft und Ausdehnung zunimmt 
und die in ihrer Art vielleicht die lieblichste Frucht der 
Iroßen blutigen Kämpfe der siebziger Jahre genannt wer— 
den darf. Etliche 20 Geistliche sind es, die in dieser Ge— 
gend Gottes Wort verkündigen, und 22 Gotteshäuser, 
davon allein 16 nach den siebziger Jahren errichtet wur— 
den, lassen ihr Glockengeläute am Sonntag in weite 
Ferne ertönen. 
Aber diesem schönen Bilde steht ein finsterer Schatten 
zur Seite. Es heißt in der Schrift, daß, wenn der böse 
Geist von Jemandem ausgefahren ist, er dürre Stätten 
durchwandele, dann wiederkomme und es mit demselben 
Menschen ärger mache als zuvor. So ist es auch in Metz 
gegangen. Als der böse Geist der Sünde mit dem 
Aberglauben und der Unduldsamkeit nichts mehr an— 
fangen konnte und im Meztzer Lande sich vor den vielen 
evangelischen Kirchtürmen flüchten mußte, suchte er sich 
Helfershelfer für ein anderes Arbeitsgebiet. Er warf 
sich jetzt auf die Familie, auf das junge Volk, auf die 
Söhne und Töchter und suchte da das Heilige zu ver— 
wüsten. Metz ist heute, das darf man ohne Uebertrei— 
bung sagen, eine der Städte im deutschen Reiche, in denen 
die Unsittlichkeit am tiefsten Wurzel gefaßt hat. Das 
ist so gekommen: Während in anderen Garnisonstädten 
die Zahl der Soldaten vielleicht den 10. oder 5. Teil der 
Bevölkerung ausmacht, zählt Metz eine Gesamtbevölke— 
rung von 60 000 Seelen (Zivilbevölkerung 45 000). Die 
Garnison selbst beziffert sich auf 26 000 Seelen, wovon 
der größte Teil in Metz selbst wohnt, der übrige in den 
umliegenden Ortschaften. Das allein schon würde für 
Metz eine sittliche Gefahr bedeuten, denn das weiß ja ein 
Jeder, daß, wenn der junge Mann in der Garnison das 
Gehorchen lernt und sich an äußere Zucht gewöhnt, er ge—
	        
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