Full text: Evangelisches Wochenblatt (13.1886)

Auch in dem Sinne, daß es ein bußfertiges und gläu— 
biges Christenvolk wäre? Unser Volk wendet sich weit— 
hin ab von dem lebendigen Gott der Offenbarung, wir 
sind auf dem Wege, ein gottvergessenes Volk zu wer— 
den. Ein solches Volk aber betet nicht und darf nicht 
beten: Gott, du bist mein Gott. Aber es ist uns, als 
ob eine frische Morgenluft von oben wehen wollte, und 
wir sind nicht hoffnungslos. Möge denn die Jahres— 
wende einen Schritt weiter führen und viele deutsche 
Herzen zum Gebet der Buße und des Glaubens brin— 
gen: Gott, du bist mein Gott! 
Tausende werden in diesem Sinne in diesen Tagen 
dor dem Herrn stehen; es sind noch mehr als 7000 
vorhanden, die ihre Kniee nicht gebeugt haben vor Baal. 
Und sie werden hinzusetzen: frühe wache ich zu dir. 
Sie werden das Auge aufheben zu dem, der im Him— 
mel sitzet, und dem auch die Wege Deutschlands be— 
sehlen. Sie werden ihn bitten, daß er dem Kaiser, den 
er in seinem königlichen Regimente während eines Vier— 
teljahrhunderts so wunderbar gesegnet, und den Fürsten 
ein helles Auge gebe, ein festes Herz, einen starken Arm, 
daß er die Kirche des Evangeliums möge ihre Segens— 
kraft entfalten lassen und die Schule erhalte als eine 
Weide der Lämmer Christi, daß er die im Finstern sich 
regenden Zerstörungskräfte breche und die grollenden 
Herzen versöhne, daß er unser Leben mit Frieden segne, 
mit Landfrieden, Hausfrieden, Herzensfrieden, daß er 
das Jahr 1886 mache zu einem Jahre des Heiles. 
Nun so bete denn eine jede Christenseele in diesen 
Tagen: Gott, du bist mein Gott, frühe wache ich 
zu dir. So mögen sie alle beten, die Treuen im Lande. 
Das Gebet wird aufsteigen wie ein Rauchopfer und 
herniederkommen als ein Tau, der die Herzen erfrischt, 
das Land befeuchtet und das Volk belebt. Das walte 
Hott Vater, Sohn und heiliger Geist! Amen. 
der Vereinler. 
Ein Bild aus dem Volksleben, gezeichnet von Adolf Fauth. 
„Aber, lieber Ferdinand, wo hast du denn gestern 
Abend gesteckt? Ich habe fast bis Mitternacht auf 
dich gewartet, bis mir zuletzt vor Müdigkeit die Augen 
zufielen. Wenn man vom frühen Morgen an auf den 
Beinen ist und den lieben langen Tag sich abquälen 
muß, dann ist man abends müde und verlangt nach 
Ruhe“ — mit diesen Worten, durch welche ein leiser 
Tadel klang, empfing Frau Meyer ihren Gemahl, als 
er ins freundliche Wohnzimmer trat. seinen Morgen— 
kaffee zu trinken. 
„Es ist durchaus nicht mein Wunsch, daß meine 
zute, fleißige Hausfrau mich immer erwartet,“ erwiderte 
gelassen Herr Kaufmann Meyer, der nicht in der Stim— 
mung war, sich mit seiner redegewandten Frau in einen 
Disput einzulassen. Diese aber hatte sich vorgenommen, 
heute mit ihrem Ferdinand einmal ein ernstes Wort 
zu reden, denn es that not. 
„Es ist wohl wieder was los gewesen?“ meinte 
Frau Meyer, indem sie prüfend ihren Gemahl betrach— 
tete. Ganz recht, meine Beste, wir hatten gestern unsere 
erste Kappensitzung. Du weißt ja, wir „naͤrrische Heu— 
ichrecken“ streiten gegen Zopf- und Philistertum und 
da darf der Ferdinand Meyer nicht zurückbleiben. Die 
Sitzung gestern abend war urfidel und es wurden Reden 
gehalten und Witze losgelassen, daß man sich schier 
lkrank lachen mußte.“ 
Frau Sophia verzog spöttisch den Mund. 
Wie vernünftige Leute an solchen Possen Gefallen 
iinden können, ist mir nicht recht begreiflich. Du hast 
nich einmal überredet, einer sogenanuten Damensitzung 
deizuwohnen, aber ich habe mich mein Lebtag nicht so 
gelangweilt, wie an diesem Abend. Ja, wenn noch 
Heist und gesunder Humor da zu finden wäre, aber 
nichts als erbärmlicher Klatsch, einfältige Salbaderei, 
ibgedroschene Kalauer. Und wenn ich diese Herren 
Hevatter Schneider und Handschuhmacher — Männer 
zum Teil mit ergrauten Haaren — dasitzen sehe in der 
»unten Narrenkappe, dann wird mirs, ich weiß nicht 
vie, zu Mute.“ 
„Wie kannst du nur so sprechen, weise Sophia! 
An der Spitze der Kölner Karnevalsgesellschaft stehen 
reiche und vornehme Herren, und da brauchen wir uns 
hier in Freudenberg auch nicht zu schämen, den Faschings— 
reuden zu huldigen. Ich weiß gar nicht, was du für 
inen philiströsen Charakter hast! Du hast doch kein 
Fünkchen Poesie in dir!“ 
„Der Kölner Karneval, mein lieber Ferdinand, ist 
doch himmelweit verschieden von eurem Gethue. Jener 
Jat vielleicht eine gewisse Berechtigung, aber was braucht 
hr hier in unserem Krähwinkel den Kölnern nachzuäffen. 
Am Ende hat jedes kleinste Nest eine oder mehrere 
Narrengesellschaften! Hat sich dieser Schwindel doch sogar 
chon aufs Land verirrt und die Pferdetnechte und Fa— 
hzrikarbeiter paradieren auf den Maskenbällen als Prin— 
zen und Grafen.“ 
„In den Narrengesellschaften sind doch auch Leute, 
die ein nur geringes Einkommen haben und sich nach 
der Decke strecken müssen — woher nehmen sie das 
Held, ihrer Vergnügungssucht zu fröhnen? Ich habe 
mir sagen lassen, daß manche Familie nach der Karne— 
»alszeit monatelang den größten Mangel leiden mußte, 
ind hat nicht unser Nachbar, der leichtsinnige Barbier, 
das seidene Hochzeitskleid seiner Frau versetzt, um sich 
inen Maskenanzug dafür anzuschaffen? Und mit sol— 
hen Leuten sitzest du zusammen an einem Tisch und 
amüsierst dich!“ 
„Du gönnst auch niemand ein kleines Vergnügen!“ 
ichmollte der faschingslustige Kaufmann. „Wenn man 
den Tag über Zahlen addiert oder in seiner Werkstätte 
ich müde gearbeitet hat, dann soll man nicht einmal 
die Sorgen und Plagen des Lebens in der Gesellschaft 
röhlicher Genossen vergessen. Ich glaube, du bist eine 
Betschwester geworden und die Pfaffen haben dir den 
Kopf verdreht.“ 
„Mein lieber Ferdinand,“ erwiderte mit größtem 
Hleichmut Frau Meyer, „das Beten und Kirchengehen 
nacht nicht ärmer, aber das aushäusige Wesen, die 
Vergnügungssucht, das Wirtshauslaufen ruiniert nicht 
nur das häusliche Glück, sondern hat auch schon man— 
chen in seinen Verhältnissen zurückgebracht. Solche 
Leute fühlen sich zu Hause nicht mehr wohl und sind 
mit ihren Gedanken nicht bei ihrer Arbeit, bei ihrem 
Heschäft. Wie oft sitzest du stundenlang da und simu— 
lierst über einer Rede, die du abends in der Kappen— 
äitzung loslassen willst, oder versteigst dich sogar, ein 
Gedicht fabrizieren zu wollen, und hast doch zum Dich— 
ten partout keine Anlage. Ueber dem Brüten und 
Sinieren vergißt du das Hauptbuch und versäumst die 
nötigen Bestellungen zu machen — mit einem Wort:
	        
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