Full text: Evangelisches Wochenblatt (13.1886)

nähmen ihnen Land und Leute, — das Blut Jesu, von 
ihnen vergossen, schreit von der Erde und zieht das 
Gericht über sie und über ihre Kinder. Später 
erhoben sie sich. Sie wollten abwerfen das Joch — 
und es ward härter. Es war eine Zeit, da stand auf 
der Stätte Zion ein Heidentempel, und Israel blieb 
verbannt aus der Stadt seiner Sehnsucht und Tausende 
starben. Und über ihre Kindeskinder. Ver— 
folgung, Haß, Hohn, Zerstreuung in alle Länder, das 
ward ihr Erbteil durch alle Jahrhunderte hindurch. 
Daß dieses Blut so heimgesucht worden ist an dem Ge— 
schlecht, das sich daran versündigt, das ist Zeichen und 
Beweis genug, wer es war, den sie verworfen. Das 
ist das vierte Zeichen. 
So sieh denn hin, o Christenauge, auf Gabbatha 
und gedenke an ihn, der dir zu liebe leidet. Das ist 
Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt. Und 
wenn sie den Barabbas freilassen für ihn, so denke: 
Für mich erlittst du Leiden, für mich ertrugst du Schmerz! 
Ich danke dir, o Herr, daß dn dich hast verwerfen 
lassen, damit ich freikomme, und daß du gestorben bist, 
damit ich lebe! Und wenn Pilatus ihn gerecht nennt, 
dann sprich: Deine Gerechtigkeit, Herr, das ist mein 
Schmuck und Ehrenkleid; schenke sie mir und hilf, daß 
ich dein sei und bleibe! Und wenn das Volk sein Blut 
auf sich herabflucht, so bete es auf dich herab, denn 
das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, macht uns 
rein von allen Sünden. 
Ja, Herr, laß in Gnaden über uns und unsere 
Kinder kommen dein Blut und dein Heil! Laß es uns 
stärken im Leben, retten im Sterben, und laß es einst 
im Gericht besser für uns sprechen, als Abels Blut! 
Amen. 
Großmütterchen. 
Erzählung von F. Strehle. 
(Fortsetzung.) 
Die letzten Reste des Winters waren von der Erde 
getilgt. Der wonnige Lenz führte mit Allgewalt sein 
geschmücktes Szepter. Die ganze Natur jnbelte, Feld 
und Wald atmeten Freude und Eutzücken. 
Es drangen Blüten 
Aus jedem Zweig. 
Und tausend Stimmen 
Aus dem Gesträuch. 
Und Freud und Wonne 
Aus jeder Brust. 
O Erd, o Sonne! 
O Glück, o Lust! 
Es war noch früh am Tage. Ein duftender Mai— 
morgen warangebrochen, Klein-Lisi hatte längst sich darnach 
gesehnt, wieder einmal in Großmütterchens freundliches 
Auge zu blicken. Zu Hause — da lag ein so dumpfer 
Druck auf allem und allen! Das Kind erhielt leicht 
die Erlaubnis, in die Stadt zu gehen, war dann doch 
auf ein paar Tage ein Esser weniger. 
Lisi hatte von ihren Sachen das Beste herausge— 
sucht. Zwar wars auch schon alt und verbraucht, aber 
doch sauber und nett. Die Strümpfe und die wohl— 
geputzten Schuhe trug sie am Arm in einem Körbchen, 
um sie erst kurz vor der Stadt anzuziehen. 
Ihr Weg führte durch den großen Laubwald, der 
zwischen ihrem Dorfe und der Stadt lag. Es war so 
feierlich uUmher. 
Durch den Wald, den dunkeln, geht 
dolde Frühlingsmorgenstunde, 
Durch den Wald vom Himmel weht 
Eine leise Liebeskunde. 
Selig lauscht der ariine Baum, 
Und er taucht mit allen Iweigen 
In den schönen Frühlingstraum, 
In den vollen Lenzesreigen. 
Blüht ein Blümlein irgendwo, 
Wirds vom hellen Tau getränket 
Tas einsame zittert froh— 
Daß der Himmel sein gedenket. 
In geheimer Laubesnacht 
Wird des Vogels Herz getroffen 
Von der großen Liebesmacht, 
Und er singt ein süßes Hojfen. 
Auch das Blümlein Lisi ward vom hellen Tau ge— 
troffen. Das Kind wußte sich ja keine Rechenschaft 
darüber zu geben, was ihm geschah, aber je weiter es 
ging, um so leichter wurde ihm ums Herz, um so 
heiterer seine Mienen, und endlich öffnete sich der kleine 
Mund sogar zu einem Liede. Lisi konnte nicht länger 
so stumm durch all den Gesang hindurchgehen, sie mußte 
mitthun. 
Großmütterchen hatte längst auf Lisi gewartet. Heut 
an diesem herrlichen Maimorgen war es ihr nicht mehr 
zweifelhaft, sie kmme — und sie kam. 
Frau Barbe hatte ihr freundliches Spitalstübchen 
auf das schönste geschmückt. Selbst einige Blumen, 
die sie gestern auf dem Wochenmarkte gekauft hatte, 
Tulpen und Springauf, fehlten nicht. Das Fenster 
stand weit auf, daß der schöne Maimorgen hereinströme. 
— Zwischendurch blickte sie immer wieder einmal auf 
die Straße, die sie, wenn sie sich ein wenig aus dem 
Fenster herausbog, eine weite Strecke überblicken konnte. 
Endlich — da — sie kam, ganz langsam und zag— 
haft, als fürchte sie sich vor den hohen Häusern der 
Stadt. 
Großmütterchen eilte, so schnell sie vermochte, hin— 
unter, der Kleinen entgegen, die sich ihr an den Hals 
hing, so fest, als wolle' sie sie nicht wieder loslassen. 
Ein Strom von Thränen stürzte ihr aus den Augen. 
Waren es Freudenthränen? Viel Fragens war Lisi 
gegenüber nicht an der Stelle. 
Erst als man droben im hellen Stübchen wieder 
vertrauter mit einander geworden war, kam als ein— 
ziger Bericht von Hause dies heraus: „Vater ist jetzt 
immer so schrecklich böse, er flucht so laut und hat auch 
gesagt, der ganze Hof müsse abbrennen!“ 
Wie ein Dolchstich ging das letzte Wort der alten 
Frau durchs Herz, und eine namenlose Angst besiel sie. 
Wie? Sollte ihr Sohn von der Bahn heruntergekom— 
mener Unbescholtenheit schon ablenken auf die des Ver— 
brechens? Sie fand den ganzen Tag keine ruhige Mi— 
nute mehr und mußte alle ihre Kraft aufbieten, dem 
Kinde ein heiteres Gesicht zu zeigen, damit dasselbe in 
seiner Wiedersehensfreude nicht beeinträchtigt würde. — 
An dem Abende desselben Tages saß Bauer Jürgen 
mit seinen Kumpanen wieder im Tabaksqualm der 
Wirtsstube des Kretschams. Branntweingläser und 
schmutzige Karten bedeckten den Tisch. 
Juͤrgen hatte heut entschiedenes Unglück. Gewann 
er sonst fast regelmäßig ein paar Groschen, heut bekam 
er trotz alles Mischens immer die schlechtesten Karten. 
Seine geringe Barschaft war längst verspielt, und er 
hatte schon zur Kreide greifen müssen. Er wollte das
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.