Full text: Der Saar-Freund (7.1926)

fassung vertreten, daß eine Gendarmeriestärke von 1000 
Mann als ausreichend betrachtet werden müsse, um Ruhe und 
Ordnung im Sagrgebiet sicherzustellen. Diesmal hat man 
eine jolche Auffassung Chamberlains in Genf vermißt, was 
sich daraus zu erklären scheint, daß über die Regelung der 
einzelnen Saarfragen vorher in Paris zwischen Briand und 
Chmdelain eine Bexreinharung zustande gekommen ist. 
Im Saargebiet, in Deutschland und in anderen ehr— 
lichen Völkerbundsstaaten aber fragt man sich: Was wird 
aus dem Rest der französischen Saarbesatzung? Der Per— 
fonalbestand der Gendarmerie, der als in normalen Zetten 
für Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung für aus— 
reichend gehalten wird, war am 1. April erreicht. Aus dem 
jüugsten Rechenschaftsbericht über die Verwaltungstätigkeit 
der Saarregierung ergibt sich, daß Frankreich nur ein Jäger— 
bataillon bis Ausgang Mai zurückziehen will. Angesichts 
dieser auf Verschleppung der ganzen Besatzungsfrage hinaus— 
laufenden Angelegenheit erklärt sich ganz von selbst die Be— 
fürchtung, daß die Saarregierung in ihrer alten Zusammen⸗ 
setzung nicht daran gedacht hat, auf die Saarbesaßzung zu 
verzichten, und daß nach dem bisherigen Verhalten der 
neuen Saarregierung nicht damit zu rechnen ist, daß diese von 
der Auffassung ihrer Vorgängerin abgehen wird. Das ist 
um so weniger zu erwarten, als sich ja tatsächlich an der Zu⸗ 
sammensetzung der Regierungskommission nichts geändert 
hat, auf keinem Falle die französische Vormachtstellung der 
Saarregierung beseitigt worden ist. Selbst aber wenn man 
annehmen möchte, daß der Beschluß des Völkerbundrates in 
der Gendarmeriefrage so aufzufassen ist, daß nunmehr die 
französische Besatzung überflüssig geworden wäre, dann 
kann man sich leicht ausrechnen, welche Zeit erforderlich sein 
würde, um den letzten französischen Soldaten aus dem 
Saargebiet herauszuziehen, nachdem zur Zurückziehung eines 
einzigen Jägerbataillons volle zwei Monate für ersorderlich 
gehalten werden. Von Sagarbrücken bis Forbach — wo man 
lich wiederholt um eine französische Garnison bemüht hat, 
weil die ehemaligen deutschen Kasernen, kurz vor dem Krieg 
nen errichtet und aufss modernste ausgestattet, leerstehen — 
sr es ganze acht Chausseekilometer, die zu bewältigen 
elbst für ein französisches Jägerbatgillon wirklich keine 
Leistung darstellen sollte. Aber Frankreich will seine 
Truppen nicht aus dem Saargebiet herausziehen und die 
Saarregierung ist, wie unter Herrn Rault, so offenbar auch 
unter Herrn Stephens, in all ihren Maßnahmen von Frank— 
reich abhängig. 
Aber nicht nur die Saarregierung ist von Frankreich 
abhängig, offenbar auch weiterhin der Völkerbund; sonst 
aee ein Beschluß wie der am 19. März in Genf nicht zu⸗ 
ande kommen dürfen. Jedenfalls läßt dieser Beschlufßj nur 
die Auffassung zu, als detrachte man im Völterbund die 
Saarfsräge noch immerin erster Linfe afls 
eine französische Interessenfrage — und be— 
handelt ste demgemäüß. Man har daher auch jetzt wieder 
keinen Anstand genommen, die französischen Interessen ent⸗ 
sprechend zu beruͤcksichtigen. Was aber der britische Außen⸗ 
minister am 22. April im englischen Unterhaus über die 
Frage der französischen Besatzung erklärte, das übertrifft 
jede pessimistische Erwartung. Chamberlain war im eng⸗ 
lischen Unterhaus gefragt worden, ob auf der letzten Völker⸗ 
bundratssitzung in Genf ein Zeitpuntt festgesetzt wurde, 
innerhalb dessen die französischen Truppen zurückgezogen 
werden follten. Er antwortete hierauf verneinend und er— 
klärte wörtlich: „Die französische Regierung 
hat sich aber vernuflichtet, bis zum 31. Man 
ein Batailler uder Saarzurüäckzuziehen 
und dann S fügr Schritt die Zurück— 
ziehung der 2rigen Teile der in Saarge— 
biet stehenden Truppen durchzuführen.“ 
Kann man aus diesen Aeußerungen Chamberlains 
etwos anderes entnehmen als das, daß sich Frankreich 
jedes Hineinreden in seine Maßnahmen sim 
Saargebiet verbittet und nur es selbst entscheidet, 
wos dort zu geschehen hat? Wir finden zwar im Saar— 
statut des Versailler Ditiats nicht eine Bestimmung, auf die 
ich Frankreich berufen könnte, um solche Sprache dem 
Polterbund gegenüher zu führen Obwohl die Bestimmungen 
hierüber klar wie kaum eine andere des Versailler Diktats 
sind, hat der Völkerbund immer und immer wiedet in eine 
jorigesetzte Vertrogsverlezung durch Frankreich und durqh 
die Saarregierung eingewilligt. Die Ausflüchte und soge 
nannten Begründungen, die Hexr Rault all die fünf Jahre 
hindurch für die Aufrechterhaltung der französischen Ve— 
satzung gemacht hat, sind bekannt. Wenn sie nicht immer 
logisch und nicht immer miteinander übereinstimmend 
varen, so ergibt sich daraus weniger eine Inkonsequenz des 
Herrn Rault, sondern lediglich die Unangreifbarkeit der 
deutschen und der Argumente der Saargebietsbevölkerung 
gegen die Aufrechterhaltung der Saarbesatzung. Aus dem 
Munde Chamberlains wissen wir nun mit ziemlicher Be— 
stimmtheit, daß Frankreich zunächst nur die Zu 
lage der Zuräckziehung eines Bataillon— 
JFägergegeben hat, für dessen Verlegungvolle 
zwei Monatee in Anspruch genommen werden. die Fest— 
etzung eines Zeitpunktes für die Zurüctziehung der übrigen 
Besatzung hat Frankreich abgelehnt und nur gänz allgemein 
ꝛinen schrittweisen Abbau in Aussicht gestellt. Selbst wenn 
eine Zurückziehung der französischen Saartruppen beschlossen 
worden sein sollte und für die Zurückziehung das gleiche 
Tempo wie für das französische Jagerbataillon eingehalten 
würde, dann wäre frühestens im Sommernäächsten 
Fahres das Saargebiet von der franzs 
sischen Besatzung srei. Die Verpflichtungen Frank 
reichs zur restlosen Zurückziehung der französischen Saar— 
kruppen sind aber so ungewiß, daß man berechtigte Zweife 
haben kann, ob bis zum Sommer n. Is. die Befreiung de 
Snargebiets von der französischen Vesatzung erreich 
sein wird. 
Wenn man sich diese Tatsachen vergegenwärtigt, danr 
kann man nicht mehr im Zweifel sein, daß Fraukrei« 
deine saarpolitischen Ziele noch nicht auf— 
gegeben hat und mit der Belassung der 
französischen Besaßzungsarmee an der Saar 
politische Zielbe verfolgt, die ebensowenig ver— 
tragsmäßig sind, wie die weitere Unterhaltung dieser 
tranzösischen Besatzung. Daß man französischerseits mit der 
Saarbesatzung bestimmte politische Ziele verfolgen muß, 
ergibt fich auch aus der ganzen Art der zähen Abwehr allet 
Versuche, Frankreich zur Zurückziehung dieser Besatzung zu 
veranlassen. Dabei hat sich kein Unterschied gezeigt, ob es 
sich um eine Regierung Poincaré, Herriot oder Briand 
sJandelt. Als der Völterbundsrat in seiner Sitzung vom 
11. März 1924 sich mit der Besatzungsfrage an der Saat 
befaßte, und schließlich einem Berscht der Regierungs— 
kommisfion zustimmte, der das vorgesehene Ausbau— 
programm sür die örtliche Gendarmerie um 200 verminderte 
da schrieb damals triumphierend das „Echo National“ 
„Die franzöhischen Truppen werden bis zu⸗ 
Volksabstimmung im Saargebiet bleibent 
Die Pariser „Action française“ aber sprach im Zusammen 
hang mit diesem Beschluß vom Saargebiet als von einen 
Kolonie der französischen Armee“, und von einer Frage. 
„die nur die Truppen angeht und sonit nie 
mand“. Wenn man hiermit die Worte Chamberlains iw 
englischen Unterhaus am 22. April d. Is. vergleicht, dann 
gewinnt man die Upberzeugung, daß an dieser Auffassung 
tatsächlich weder Chamberlain, noch Briand, noch der 
Bölkerbund zu rühren wagen. Die franzößische Arme⸗ 
wird bestimmen, ob und wann die franzöfische Saarbesatzuns 
zurückgezogen wird, genau so, wie sie bestimmt, ob die 
französische Besatzung am Rhein vermindert werden soll 
Weder das französfische Kabinett, noch der Völkerbund, nos 
die Botschafterkonferenz sind in der Lage, auf die Be— 
atzungsfragen einzuwirken, wenn es nicht im Einverständ 
nis mit der französischen Armee geschieht. Wäre es anders 
so bedürfte es doch wohl nur eines ernsthaften Beschlusses 
des Völkerbundrates, daß der Stand des saarländischen Gen— 
darmeriekorps erreicht ist, daß nach Abschluß des Ausbaues 
der Saargendarmerie ein längeres Verbleiben der franzö— 
sischen Saarbesatzung nicht mehr geduldet werden könne 
und daß daher die französische Besatzung in kürzester Frist 
von der Saar zurückzuziehen ist. Oder fürchtet der Völter⸗ 
bund, daß Frankreich sich an einen solchen Beschluß doch nich 
halten würde? Was geschieht aber, wenn ein Volkerbunds 
mitglied sich der Durchführung einer Völiterbundsem 
ens widersetzt, menn dieses Mitglied — Frankreis 
eißt?ꝰ
	        
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